ANDREAS SIEMONEIT
Geboren 1967 in Köln. Aufgewachsen in Berlin, dort Grundschule und humanistisches
Gymnasium, anschließend Studium zum Diplom-Physiker an der TU Berlin. Nach einiger Zeit der
Sinnsuche entschloss ich mich zum Aufbaustudium
Wirtschaftsingenieurwesen an der Berliner Hochschule für Technik (BHT, damals noch TFH Berlin).
Während dieses Aufbaustudiums fasziniert von der Wirtschaftsinformatik. Seit der
Diplomarbeit 1997 auf diesem Feld tätig, erst angestellt, dann als angestellter Gesellschafter.
Zunächst eher breitbandig im Bereich Warenwirtschaft, seit 2005 praktisch
ausschließlich fokussiert auf Software für Zeitarbeitsfirmen – einem gesellschaftlichen
Brennpunkt und „Labor“ für die Diskussion um den Wert der Arbeit und die Bedeutung
der Effizienz und ihrer Steigerung.
2011 begann ich, eine zunehmende Distanz zu meiner eigenen Erwerbsarbeit aufzubauen. Ich hatte keine Lust mehr, als Softwareentwickler an der vordersten Front der Beschleunigung mitzuarbeiten. Oder um mit Harald Welzer zu sprechen: Ich hatte keine Lust mehr, niemals fertig zu sein. Ich ging auf Teilzeit, und im März 2013 habe ich gekündigt, um mich ganz der Wachstumskritik zu widmen. Im März 2014 habe ich zudem eine Ausbildung zum Psychodrama-Praktiker abgeschlossen. Im April 2014 bin ich in meine alte Firma zurückgekehrt und arbeite seitdem wieder (erst in Teilzeit, mittlerweile wieder in Vollzeit) als Senior Software Architect und Senior System Consultant.
Als Wachstumskritiker bin ich nicht gegen Wachstum (ein Literaturkritiker ist ja auch nicht gegen Literatur), sondern befasse mich kritisch mit dem einseitigen Festhalten von Politik und Gesellschaft an Wirtschaftswachstum als oberstem politischem Ziel. „Kritisch“ bedeutet nicht in erster Linie eine Beanstandung, sondern die fundierte Analyse eines Themenbereichs. Dieser wird von mir aus verschiedenen Richtungen beleuchtet, und es werden bestimmte Maßstäbe transparent angelegt, mit dem Ziel einer Bewertung. Meine Kritik ist umfassend, aber nicht neutral: Sie hat ein Ziel, nämlich darzulegen, dass Wirtschaftswachstum eine ebenso endliche wie auch völlig überflüssige Geschichte ist – eigentlich nur ein großes, wenngleich nachvollziehbares Missverständnis. Aber meine Kritik richtet sich an beide Seiten: An die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Wachstumsbefürworter ebenso wie an den Großteil der Wachstumskritik, also der Bewegung, der ich mich selbst zugehörig fühle.
Viele Wachstumskritiker nehmen an, dass Wachstumspolitik als politisches Projekt gewollt ist. Damit haben sie natürlich nicht ganz unrecht, aber dieses Wollen ist meines Erachtens eher die psychologische Rationalisierung einer ganz anderen politischen Annahme, nämlich nur mit Wachstum dem allgemeinen Arbeitsplatzverlust durch Effizienzsteigerung begegnen zu können: „Wachstum und Beschäftigung“ lautet die Formel. Effizienz und ihre Steigerung werden als so gut, natürlich und unvermeidlich angesehen, dass niemand, dem an seiner politischen Zukunft gelegen ist, je Effizienzkritik äußern würde. Effizienz ist allerdings ein zweischneidiges Schwert: Ihre individuelle Steigerung zwingt alle anderen nachzuziehen. Wir landen in einer Effizienzsteigerungsspirale, aus der ein persönlicher Ausstieg kaum mehr möglich ist. Das Versprechen von Haushaltstechnik, „mehr Zeit für das Wesentliche“ zu haben, wird auf Dauer nicht erfüllt, weil gleichzeitig das persönliche Leben immer weiter verdichtet wird (Hartmut Rosas „Beschleunigungszirkel“). Die zunehmende Flexibilität durch Auto, Computer, Smartphone führt dazu, dass „unproduktive“ Zeiträume, die sonst als Ruhezonen dienen konnten, mit nützlicher Aktivität gefüllt werden – analog zur betrieblichen Logik der Produktivitätssteigerung. So wurde ich nicht nur Wachstumskritiker, sondern auch Effizienzkritiker. Was nicht heißt, dass ich gegen Effizienz bin.
Mit Beginn der Teilzeit 2011 tauchte ich tief in die wachstumskritische Debatte ein, zunächst bei Bündnis 90/Die Grünen in Berlin (wo diese Debatte nur punktuell und nur von Einzelnen geführt wird), dann im Umfeld des Netzwerks Wachstumswende und der Vereinigung für Ökologische Ökonomie. Ab 2013 habe ich mich intensiv im Förderverein Wachstumswende engagiert (2013 bis 2020 Schatzmeister, 2014-2020 Geschäftsführer) und war maßgeblich an den Großprojekten des Vereins beteiligt. Ende 2020 bin ich aus dem Vorstand ausgeschieden, weil die wachstumskritischen Projekte, die der Förderverein betreut(e), meistens doch sehr traditionell waren: verhaltensorientierte Bildungsarbeit, marktkritisch, geldkritisch, Rückfall auf solidarische Formen der Ökonomie, wenig Sinn für moderne Institutionen. Sieben Jahre meiner Bildungsarbeit in der Szene haben wenig gebracht.
Seitdem verfolge ich nur noch zwei Linien eines wachstumskritischen Engagements:
Meine Vision ist die einer radikal einfacheren Welt, die wieder menschliche Dimensionen erhält. Vielleicht bin ich einfach in der falschen Zeit geboren – gefühlt hätte ich lieber vor 100 oder 150 Jahren gelebt. Die „gute, alte Zeit“ (die so gut oft nicht war) war materiell erheblich verträglicher, aber gesellschaftlich und vom Wissen her ziemlich rückständig. In der heutigen Moderne (die so gut auch nicht ist) sind wir im Wissen viel, gesellschaftlich nur in manchem weiter, dabei aber materiell zutiefst rückständig, indem wir die Erde buchstäblich zugrunde richten. Wir sollten versuchen, das Beste aus beiden Welten zusammenzubringen – und die gute, alte Zeit dient als Beweis dafür, dass es technisch funktionieren kann. Denn es hat schon mal funktioniert. Wir müssen ja nicht alle Fehler von damals wiederholen. Oder um mit Serge Latouche zu sprechen: Es geht nicht um das Zurückdrehen der Uhr in eine elende Zeit (deren Elend oft das Ergebnis inakzeptabler Ungleichheit war), sondern um die Frage, ob wir für Wohlstand zehn Paar billige Schuhe schlechter Qualität brauchen, oder eher zwei Paar, die lange halten.
Ich selbst mache bei einem Gutteil der modernen Wunderdinge weitestgehend nicht mehr mit – wohl wissend, dass es Konsequenz in einer durch und durch widersprüchlichen Welt nicht geben kann. Es geht eigentlich nicht um Konsequenz, sondern um eine wirksame Deprivilegierung. Nach wie vor gilt: »Das Gewissen des Einzelnen kann das Versagen der Institution nicht kompensieren.« (Hermann Krings, 1991). Aber solange die Institutionen offensichtlich versagen, versuche ich zumindest privat den gröbsten Unfug zu vermeiden, und dazu gehört vor allem das, was ich als „Effizienzkonsum“ bezeichne: