ANDREAS SIEMONEIT
Nach vielen Jahren betriebswirtschaftlicher Berufserfahrung in der Wirtschaftsinformatik, wo sich ohnehin alles um die Effizienz von Unternehmen dreht, nahm ich eine zunehmende Produktivitätssteigerung auch bei Konsumenten wahr, die sich unter anderem in einer umfassenden Beschleunigung des Privatlebens äußert. Die Nutzung von Geräten wie Auto, Computer, Smartphone sowie die Inanspruchnahme der damit verbundenen Dienstleistungen können zu einem ökonomischen Wachstumszwang aufgrund von positiven Feedback-Schleifen zur Anbieterseite führen. Dies veranlasste mich zu der Vermutung, dass die Gesellschaft sich insgesamt in einer „Effizienzsteigerungs-Spirale“ gefangen halten könnte: Effizienz als Angebot, das man – bei Strafe des ökonomischen Rauswurfs – nicht ablehnen kann.
Im Jahr 2011 reduzierte ich meine Arbeitszeit und begann ein „privates Drittstudium“. Der Fokus liegt auf Ökonomik, Soziologie und Moralphilosophie, aber gleichzeitig versuche ich, Grundlagenwissen in vielen weiteren Disziplinen der Sozial- und Naturwissenschaften zu erwerben. Mein Hauptinteresse liegt darin, zu erkunden und zu beschreiben, wie der ökonomische und der politische Prozess tief verwurzelt sind in unseren moralischen Intuitionen – ein derzeit ziemlich spannendes Feld der Sozialpsychologie.
Mit Oliver Richters arbeite ich seit dem Frühjahr 2014 in der Arbeitsgruppe „Wachstumszwang“ der VÖÖ zusammen. Ursprünglich wollten wir „einfach“ einen Review-Artikel zum Thema „Welche Theorien kursieren zum Thema Wachstumszwang?“ schreiben. Daraus ist deutlich mehr geworden. Auf der Webseite marktwirtschaft-reparieren.de stellen Oliver Richters und ich kurz und knapp die Ergebnisse unserer Forschungsarbeit vor.
An folgenden Fachartikeln in Zeitschriften mit Peer-Review () und
Diskussionspapieren war ich bisher beteiligt:
September 2023![]() |
Siemoneit, Andreas:
Merit first, Need and Equality second: Hierarchies of Justice International Review of Economics 70 (2023) 537-567 (open access) Ausgangspunkt ist das Buch „Principles of Social Justice“ des von mir sehr geschätzten Oxforder Philosophen David L. Miller. In diesem vertritt er die These, dass Verteilungsgerechtigkeit von den drei Prinzipien Verdienst, Bedarf und Gleichheit dominiert wird, welche von den Menschen je nach sozialem Kontext gewählt werden. Diese Trias ist seit den 1970er Jahren ein feststehendes Paradigma im sozialpsychologischen Diskurs über Verteilungsgerechtigkeit. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Millers Buch stellt der Philosoph Axel Honneth allerdings bereits kritisch fest, dass Miller mit seinem spezifischen Ansatz das Problem lediglich vom Gerechtigkeitsprinzip auf den sozialen Kontext verschieben würde: Die Abgrenzung, wann Menschen welches Prinzip wählen (und gegebenenfalls sogar Prinzipien kombinieren), bleibt vage. Hier setzt nun mein Artikel an und zeigt, dass aus soziobiologischer Sicht allein Reziprozität, also die Ausgewogenheit von Leistung und Gegenleistung, evolutionär stabil sein kann. „Altruistische“ Handlungen in einem strengen Sinne (Kosten höher als der Nutzen) sind bestenfalls als Randerscheinungen möglich, keinesfalls systematisch. Aber Altruismus ist auch gar nicht „notwendig“, um gesellschaftlich stabile Kooperationsmuster zu erklären: Durch die Berücksichtigung praktisch wichtiger Nebenbedingungen kann Reziprozität alle Handlungen von Individuen erklären, die scheinbar vom Reziprozitätsgedanken abweichen – insbesondere Verteilung nach Gleichheit und Bedarf. Diese sind Hilfsprinzipien, wenn Verdienst nicht effektiv, nicht effizient oder nicht kommunizierbar ist. Gerechtigkeit ist kein starres Konzept, sondern eher ein sozialer Aushandlungsprozess – und ein Optimierungsproblem. Sozialpsychologische Konzepte (Intuitionen, Faustregeln, Selbstbindungen) können aufzeigen, wann und warum die beiden Verteilungsregeln Bedarf und Gleichheit erfolgreicher sind als Verdienst. Aber beide werden von reziproken Erwägungen geleitet, und Selbstbindungen helfen dabei, Altruismus als „sehr verallgemeinerte Reziprozität“ zu interpretieren. Auf diese Weise kann man zu einer einheitlichen (monistischen) Theorie von Gerechtigkeit kommen, ein Ansatz, an dem Equity Theory schon vor fünfzig Jahren ziemlich dicht dran war, aber dann an konzeptionellen und Kommunikationsproblemen gescheitert ist. Was die Politik betrifft, so kann die reziproke soziale Norm „Leistungsprinzip“ implementiert und ihre Kontroverse vermieden werden, indem man sich auf die Unterbindung von „Nicht-Leistungen“ konzentriert, also die institutionelle Trockenlegung der Quellen leistungsloser Einkommen (ökonomische Renten). |
Juni 2021 |
Siemoneit, Andreas:
Justice as a Social Bargain and Optimization Problem Discussion Paper in arXiv.org > econ > arXiv:2106.00830 Siehe oben die Veröffentlichung bei International Review of Economics im August 2023. Zwischen dem Discussion Paper und der Veröffentlichung bestehen allerdings nach mehreren Überarbeitungen erhebliche Unterschiede. |
Februar 2021 |
Richters, Oliver; Siemoneit, Andreas:
Making Markets Just: Reciprocity Violations as Key Intervention Points ZOE Discussion Paper 7 Kurz gesagt, ist das unser Buch Marktwirtschaft reparieren als wissenschaftlicher Artikel. Im Buch (Manuskript von 2018) sind wir ja deutlich über unsere bis dahin veröffentlichten Artikel zu Wachstumszwängen hinausgegangen und haben die „soziale Utopie der Marktwirtschaft“ skizziert. Ebenso wie im Buch interpretieren wir in diesem Artikel die Kernbegriffe der Neoklassischen Ökonomik im Hinblick auf Reziprozität, um so zu zeigen, dass Reziprozität dieser Theorie (wenn auch nur implizit) als Gerechtigkeitsprinzip unterlegt ist. Wir zeigen, warum das institutionelle Trockenlegen der Quellen leistungsloser Einkommen ein genereller politischer Kompass sein kann. Weiterhin gehen wir auf zwei wichtige Quellen leistungsloser Einkommen näher ein: Ressourcenintensive Technologien und die „Lage“ von Immobilien. |
August 2019![]() |
Richters, Oliver; Siemoneit, Andreas:
Growth Imperatives – Substantiating a Contested Concept Structural Change and Economic Dynamics 51 (2019) 126-137 Dieser Artikel ist eine Synthese der VÖÖ Discussion Papers 4 und 6 (siehe unten). Die beiden Texte wurden auf einen Artikel gekürzt, die Struktur wurde gründlich überarbeitet. Vor allem haben wir versucht, durch mehrere Abbildungen die Argumentationslinien anschaulich zu machen. Auch haben wir die Bedeutung des Leistungsprinzips stärker herausgearbeitet und damit die Unterscheidung zwischen dem individuellen (eigentlichen) Wachstumszwang und dem resultierenden „politischen Wachstumszwang“ besser verdeutlichen können. „This is a beautifully written, well-argued, deeply reasoned essay.“ (James Galbraith, Editor) |
August 2019![]() |
Siemoneit, Andreas:
An offer you can't refuse – Enhancing personal productivity through ‘efficiency consumption’ Technology in Society 59 (2019) 101181 Die These des Effizienzkonsums habe ich bereits vor langer Zeit aufgestellt (siehe beispielsweise mein Beitrag im Blog Postwachstum). Dieser Artikel ist die englische und deutlich überarbeitete Version des VÖÖ Discussion Paper 3. Diskutiert wird folgende These: Unternehmen und Konsumenten kaufen beide zahlreiche Güter, die sie effizienter machen, im Sinne von Zeit- und Kosteneffizienz. Dies erzeugt positive Rückkopplungen, die man als Wachstumszwang interpretieren kann. Für Unternehmen wird Effizienzsteigerung seit langem als Investitionsmotiv akzeptiert, aber weder Mikroökonomik noch Konsumsoziologie diskutieren sie auch nur als Konsummotiv – für Konsumenten wird Effizienz in der Regel gerahmt als Bequemlichkeit, Schnelligkeit oder Einfachheit („schnell und bequem online shoppen“). Der Artikel diskutiert nicht nur diese sprachliche Besonderheit, sondern auch weitere Gründe, warum hier offensichtlich ein disciplinary gap in den Sozialwissenschaften besteht und wie man ihn schließen kann. |
Januar 2019 |
Siemoneit, Andreas:
An offer you can't refuse – Enhancing personal productivity through ‘efficiency consumption’ ZOE Discussion Paper 2 Siehe oben die Veröffentlichung bei Technology in Society im August 2019. |
November 2018 |
Richters, Oliver; Siemoneit, Andreas:
The Contested Concept of Growth Imperatives: Technology and the Fear of Stagnation Oldenburg Discussion Papers in Economics, Working Paper No. V-414-18 Siehe oben die Veröffentlichung bei Structural Change and Economic Dynamics im August 2019. |
Juni 2017![]() |
Richters, Oliver; Siemoneit, Andreas:
Consistency and Stability Analysis of Models of a Monetary Growth Imperative Ecological Economics, Volume 136, June 2017, pp. 114–125 Dieser Artikel ist die Analyse zweier Argumentationslinien, dass im Geldsystem an sich ein systemischer Wachstumszwang begründet liege: Verdächtigt werden zum einen zinstragendes Kreditgeld, zum anderen das Horten von Gewinnen durch die Geschäftsbanken (diese Idee wird insbesondere vertreten von den beiden Schweizer Ökonomen Hans-Christoph Binswanger und seinem Sohn Mathias Binswanger). Beide Argumentationslinien sind aus unserer Sicht unplausibel und daher zurückzuweisen. Es gibt im Geldsystem keinen systemischen Wachstumszwang. |
März 2017 |
Richters, Oliver; Siemoneit, Andreas:
Fear of Stagnation? A review on growth imperatives VÖÖ Discussion Paper 6. Heidelberg: Vereinigung für Ökologische Ökonomie. Dieser Artikel baut auf den beiden zuvor veröffentlichten Diskussionspapieren auf (DP 1 zu Geldsystem vom Februar 2016 sowie DP 4 zu sozio-kulturellen Mechanismen vom Januar 2017) und rundet unsere Analyse ab: Wir gehen durch die „klassischen“ und neuen Theorien, warum die Ökonomie einem Wachstumszwang unterliege: Geld, Wettbewerb und Gewinnorientierung, Technischer Fortschritt, staatliche Wachstumspolitik und sozio-kulturelle Mechanismen (wobei wir bei Geld und sozio-kulturellen Mechanismen auf unsere anderen Artikel verweisen). Unser Ergebnis ist eindeutig: Nur der sogenannte Technische Fortschritt, der recht einseitig menschliche Arbeit durch maschinellen Ressourcenverbrauch ersetzt, hat das Potential, eine auf Marktwirtschaft basierende Gesellschaft „in den Wahnsinn zu treiben“. Die vordergründig treibende Kraft ist eine staatliche Wachstumspolitik, die jedoch vor allem auf die durch Prozessinnovationen verursachte „technologische Arbeitslosigkeit“ reagiert, welche durch neue Produktinnovationen nicht verlässlich kompensiert wird. Akkumulation, Ungleichheit und Kreditgeld (Finanzierung ohne vorhergehendes Sparen) verstärken das Problem durch verschiedene Effekte. Es ist also nicht so, dass nur ein Mechanismus „verantwortlich“ ist, aber wir betrachten Technischen Fortschritt (bzw. den entsprechenden Ressourcenverbrauch) durchaus als obersten Punkt in einer „Hierarchie der Ursachen“. Ein Ausweg aus dem Dilemma könnten institutionelle Verbrauchsbegrenzungen (Cap & Trade) und die Begrenzung von Akkumulation (Reichtum, Konzerne) sein. Die Überwindung von Marktwirtschaft ist dafür nicht erforderlich. |
Januar 2017 |
Richters, Oliver; Siemoneit, Andreas:
How imperative are the Joneses? Economic Growth between Desire and Social Coercion VÖÖ Discussion Paper 4. Heidelberg: Vereinigung für Ökologische Ökonomie. Dieser Artikel liefert zunächst sehr ausführlich begründete Definitionen der Schlüsselbegriffe „sozialer Zwang“ und „Wachstumszwang“. Insbesondere letzterer ist bislang nur auf der Makroebene oder ansonsten eher umgangssprachlich definiert. Ausgehend von dieser Definition untersuchen wir dann verschiedene in der Literatur aufgestellte Hypothesen, dass Nachfrager (Konsumenten) oder Anbieter (Produzenten) aufgrund sozio-kultureller Mechanismen einem Wachstumszwang unterliegen würden (Stichwort „Wachstumsparadigma in den Köpfen“). Wir zeigen, dass diese Hypothesen einerseits nicht tragfähig sind: Entweder verweisen sie letztlich auf ökonomischen Druck (wozu auch Wettbewerbsvorteile durch sogenannte Innovationen gehören), oder sie erfüllen nicht unsere Anforderungen an einen Wachstumszwang. Andererseits führen wir den Begriff der „Angebote, die man nicht ablehnen kann“ ein. Hierunter fallen vor allem zwei Dinge: Alle Bestrebungen, weit oben auf der sozialen Leiter zu stehen (weil das unmittelbar auch zu materiellen Vorteilen führt), und das Phänomen des Effizienzkonsums (siehe DP 3). Sowohl Zwangsmechanismen als auch attraktive Angebote führen zu ähnlichen gesellschaftlichen Dynamiken, so dass eine strikte Trennung zwischen „Streben“ und „Zwang“ analytisch nicht sinnvoll erscheint. |
Januar 2017 |
Siemoneit, Andreas:
Effizienzkonsum – Produktivitätssteigerung als Beschreibungsrahmen bestimmter Konsum-Entscheidungen VÖÖ Discussion Paper 3. Heidelberg: Vereinigung für Ökologische Ökonomie. Siehe oben die Veröffentlichung bei Technology in Society im August 2019. |
Februar 2016 |
Richters, Oliver; Siemoneit, Andreas:
Consistency and Stability Analysis of Models of a Monetary Growth Imperative VÖÖ Discussion Paper 1. Heidelberg: Vereinigung für Ökologische Ökonomie. Siehe oben die Veröffentlichung bei Ecological Economics im Juni 2017. |
Am 22.02.2023 habe ich an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg meine Dissertation verteidigt und damit den Doktorgrad in Wirtschaftswissenschaften erworben. Der Titel der kumulativen Dissertation lautet „Growth imperatives as a conflict between efficiency and justice“. Sie besteht im Kern aus den oben aufgeführten () Fachartikeln (von denen einer erst ein halbes Jahr später veröffentlicht wurde, siehe nächster Absatz). Den Artikeln ist eine mehr als 30 Seiten umfassende Einleitung vorangestellt, die von der Problembeschreibung über konzeptionelle Grundüberlegungen und ein Resümee der Artikel zu einer Synthese mit Schlussfolgerungen führt.
Die hier verfügbare Web-Version ist auf den inhaltlichen Teil beschränkt (verzichtet also auf alles, was nur für das Promotionsverfahren wichtig ist), lässt die Leerseiten der Druckversion weg und muss aus urheberrechtlichen Gründen auf den Volltext der Fachartikel verzichten (das Copyright hierfür liegt bei den Zeitschriftenverlagen). Der vierte Artikel der Dissertation (Merit first, Need and Equality second: Hierarchies of Justice) ist allerdings ein halbes Jahr nach der Verteidigung in überarbeiteter Form als open access Artikel erschienen und damit frei zugänglich.
Januar 2019 |
Kolloquium „Gesellschaftsanalysen“ im Fachgebiet Soziologie an der WiSo-Fakultät der Universität Hamburg (Prof. Neckel/Prof. Adloff) |
Dezember 2018 |
Veranstaltungsreihe „Paradigmen und Kontroversen ökonomischer Theorien“ der
Studierendeninitiative „Kritische WirtschaftswissenschaftlerInnen Berlin“ an der FU Berlin |
Januar 2018 |
Veranstaltungsreihe „Denkschulen und aktuelle Kontroversen der Ökonomik“ der
Studierendeninitiative „Kritische WirtschaftswissenschaftlerInnen Berlin“ an der FU Berlin |
Februar 2017 |
Workshop „Wachstumszwang? Wirtschaftliche Sachzwänge zwischen Rhetorik und Realität“, Universität Witten/Herdecke, 4.-5. Februar 2017 |
Oktober 2016 |
20 Years-Anniversary Conference „Towards Pluralism in Macroeconomics?“ of the FMM Research Network in Berlin
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Oktober 2016 |
Jahrestagung 2016 „Nachhaltige Ressourcennutzung im Spannungsfeld von Wachstumskritik und
Commons-Diskurs“ der Vereinigung für Ökologische Ökonomie auf dem Umweltcampus Birkenfeld der FH Trier
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Januar 2016 |
6. Netzwerktreffen der Zivilen Enquête „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ in Berlin
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Januar 2016 |
Veranstaltungsreihe „Denkschulen und aktuelle Kontroversen der Ökonomik“ im Fachbereich VWL der FU Berlin |
Oktober 2015 |
Jahrestagung 2015 „Wege in die Postwachstumsökonomie“ der Vereinigung für Ökologische Ökonomie in Oldenburg
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Oktober 2013 |
European Center for Sustainability Research der Zeppelin Universität (Prof. Dr. Dr. Manfred Moldaschl), Friedrichshafen |