ANDREAS SIEMONEIT
Literatur von Relevanz für die Wachstumskritik
Hier gibt es einige von mir erstellte, neutrale deutsche Zusammenfassungen
von Büchern und Artikeln, die mir für die Wachstumskritik relevant erscheinen
und die ich seit April 2012 gelesen habe. Nicht für alle Zusammenfassungen habe
ich ausführliche Rezensionen, damit habe ich erst später angefangen.
Diese Zusammenfassungen sind zwar auch als allgemeines Bildungsprojekt gedacht,
aber vor allem meine eigenen Arbeitsnotizen. Das Zusammenfassen von Büchern ist extrem zeitaufwendig.
Insofern nehme ich mir die Freiheit, in Einzelfällen Bücher nicht komplett zusammenzufassen,
wenn mir dort größere Abschnitte begegnen, die mir für meine Forschungsarbeit
unerheblich erscheinen. Für mich wäre das ein nicht zu vertretender Zeitaufwand, und es steht jedem frei,
sich persönlich einem tieferen Studium dieser Fehlstellen zu widmen. Interessenschwerpunkte sind ja sehr unterschiedlich.
Welche Texte sind elementar wichtig oder haben den Status von Klassikern?
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Herman E. Daly (Hg.):
Toward a steady-state
economy. W. H. Freeman and Company, 1973. [Zusammenfassung vom April 2012: einige Aufsätze]
Daly ist der Begründer der Idee der Gleichgewichtsökonomie, also einer Wirtschaft,
die auf Dauer weder wächst noch schrumpft, weil Bevölkerung und materieller Durchsatz
konstant gehalten werden. Daly ist m. E. bisher der einzige, der wirklich ein
konsistentes ökonomisches Gesamtkonzept entwickelt hat (und einer der ersten,
die sich mit Wachstumskritik beschäftigt haben). Allerdings kann seine Analyse
aus heutiger Sicht ergänzt werden, nicht was die Ergebnisse, aber was ihre Begründung
angeht. Daly argumentiert vorwiegend aus einer ökologischen
Perspektive. Diese Perspektive kann und muss heute dank neuer Forschungsergebnisse
viel breiter sein. Ziel meiner Arbeit ist es zu zeigen, dass Dalys Vorschläge
nicht nur geeignet sind, sondern dass sie in einem ökonomischen, soziologischen,
anthropologischen und moralischen Sinne richtig sind. Sie erfüllen alle
Kriterien, die wir an eine gute und gerechte Lösung stellen. Es geht mir
also um „Daly revisited“.
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Tim Jackson:
Wohlstand ohne Wachstum – Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt.
oekom Verlag 2011 (3. Auflage). [Zusammenfassung vom Januar 2013]
Bahnbrechender Klassiker der internationalen Wachstumsdebatte und auch heute
noch ein wirklich gutes „Einsteiger-Buch“. Jackson beleuchtet gut verständlich
die verschiedenen Dimensionen von Wirtschaftswachstum und der Kritik daran.
Klassisch ist auch seine kurze Berechnung der praktischen Unmöglichkeit
absoluter Entkopplung. Meines Erachtens fokussiert er allerdings zu stark auf
den symbolischen (Status)Konsum – ich kenne zu viele Leute, die darauf keinen
Wert legen und sich trotzdem in bestimmten Zwängen gefangen sehen.
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Walter Eucken:
Wirtschaftsmacht und Wirtschaftsordnung – Londoner Vorträge zur
Wirtschaftspolitik und zwei Beiträge zur Antimonopolpolitik. Hg. vom Walter-Eucken-Archiv.
Mit einem Nachwort von Walter Oswalt. LIT Verlag Berlin, 2. Auflage 2012 (1. Auflage 2002). [Zusammenfassung vom Februar 2015]
Walter Eucken ist für mich die große Entdeckung der letzten Zeit. Zwar war mir schon vorher
„ungefähr“ klar gewesen, was die Ordoliberalen gefordert hatten, aber der vorliegende Band hat mir
in zweierlei Hinsicht die Augen geöffnet: Ich hatte nicht geahnt (oder zu hoffen gewagt), in Eucken
einen dermaßen scharfen Konzernkritiker zu finden, und das kenntnisreiche Nachwort von Walter Oswalt
ordnet die Arbeit von Eucken in die Geschichte des Liberalismus und die Geschichte der Bundesrepublik ein.
Wohl kaum eine politische Strömung des letzten Jahrhunderts wird so fehlinterpretiert wie der Ordoliberalismus.
Euckens fünf Vorträge zur Wirtschaftspolitik sind – ähnlich wie bei Heinrich Popitz –
„Meisterwerke der kleinen Form“. Auf gerade einmal 70 Seiten skizziert er ein umfassendes wirtschaftspolitisches
Panorama, wertet die Erfahrungen von 100 Jahren jüngerer Wirtschaftsgeschichte (bis 1950) aus und stellt alles
in einen konsistenten Zusammenhang. Dabei verwendet er eine voraussetzungslose Sprache mit vielen anschaulichen
Beispielen, die auch von Nicht-Ökonomen leicht zu verstehen sind, denn die Grundlagen von Wirtschaft sind
strukturell einfach: Es geht um Angebot und Nachfrage sowie – zentrales Thema – um seine geliebte
„Preismechanik“, die diesen Kommunikationsprozess steuert und immer wieder in Gleichgewichte führt.
Wunderbar ist es, wenn er nicht abstrakt von Exporten und Importen spricht, sondern die Eisenbahnwaggons
an der Grenze beschreibt und die Waren, die sie transportieren, oder die alltäglichen Entscheidungen,
die innerhalb eines Betriebes getroffen werden.
Eucken betrachtet eine Zeitspanne, deren Ereignisse und Auseinandersetzungen uns aus der heutigen Perspektive
sehr fern erscheinen, vormodern und in ihrer Experimentierfreudigkeit von einer wilden Ursprünglichkeit. Aber
völlig richtig sieht er diese Ereignisse vor allem als großen Erfahrungsschatz – Erfahrung lässt sich durch
nichts ersetzen. Eucken nimmt in seiner Interpretation Bezug auf klassische soziologische Theorien wie nichtintendierte
Nebeneffekte oder das Thomas-Theorem, und er macht deutlich, dass es zwar keine Zwangsläufigkeit der Geschichte,
aber erste Schritte gibt, die innerhalb einer bestimmten Logik unweigerlich zu bestimmten zweiten und dritten Schritten
führen müssen und von daher den Eindruck der Zwangsläufigkeit des ganzen Prozesses erwecken.
Anhand seiner Beispiele wird klar, warum jeder Eingriff in den Markt und seine Preismechanik ein unkalkulierbares
Risiko darstellt und daher besser unterbleibt. Wir haben uns heute so sehr daran gewöhnt, auf „Marktversagen“ mit
allerlei Interventionen zu reagieren, dass uns der Gedanke einer Marktwirtschaft ohne Gewerkschaften, Tarifverträge,
Umverteilung und Mindestlohn geradezu obszön erscheint, als freche Anmaßung von neoliberalen „Marktbefürwortern“.
Aber Eucken ist viel radikaler und viel freiheitsliebender als der größte Teil der zeitgenössischen Wachstumskritik,
zu deren Tragik es gehört, das Potential der sozialen Institution „Marktwirtschaft“ so gering zu schätzen.
Der Ordoliberalismus hat ein geradezu revolutionäres Politikverständnis (welches allerdings im Nachwort von Walter Oswalt
deutlicher wird als in diesem Text von Eucken). Mit wenigen, wohlüberlegten Eingriffen in das Wirtschaftsgeschehen,
die einem konsistenten Plan der Machtbegrenzung folgen, wird ein Maximum an Freiheit und Pluralismus erreicht –
das ist der schmale Grat zwischen Laissez-faire und Überregulierung, den zu finden die Aufgabe ist.
Eucken hat ein tiefes intuitives Verständnis von Ökonomie, also von jenen Überlegungen, die Menschen anstellen,
um sich zu versorgen und ein gutes Leben zu haben, und er beweist eine ungewöhnliche Konsequenz und Radikalität
darin, diese Überlegungen konsistent zu deuten: Alles dreht sich um Macht und ihre Beschränkung. Radikal bedeutet
nicht etwa extrem, sondern gründlich (radix = lat. die Wurzel), und entsprechend führen seine Gedanken nicht in
einen Extremismus, sondern in eine sehr maßvolle („langweilige“) Form von maximal mittelständischer Wirtschaft –
in einem Zeitalter, wo „boring banking“ diskutiert wird, ein außerordentlich moderner Gedanke, den aber natürlich
niemand wirklich haben will …
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Michael Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie
– Eine Einführung. 3. Auflage (Reihe theorie.org). Stuttgart: Schmetterling. [Zusammenfassung vom April 2019]
Bereits vor einigen Jahren war ich auf Michael Heinrichs viel gelobte Kurzfassung der Marx’schen Politischen Ökonomie aufmerksam geworden,
aber erst im Rahmen des Buchprojektes mit Oliver Richters habe ich dieses Werk noch einmal aufmerksamer gelesen und nun mit einer
Zusammenfassung gewürdigt. Der Klassiker ist dabei allerdings nicht Michael Heinrich, sondern natürlich Karl Marx, dessen ökonomische Analysen
bis heute auch viele Spielarten der Wachstumskritik prägen – auch wenn Wachstumskritik weder das Anliegen von Marx noch das Thema seiner Zeit war.
Michael Heinrichs Leistung ist tatsächlich kaum zu überschätzen: Aus mehreren tausend Seiten Marx,
stellenweise verfasst in einer schwer zugänglichen Sprache und gespickt mit sehr speziellen Begriffen, deren Verwendung vom (heutigen)
allgemeinen Sprachgebrauch abweicht, hat er souverän ein gut gegliedertes und sehr lesbares Destillat von etwa 200 Seiten im Taschenbuchformat
hervorgebracht. Dass er damit nicht alle marxistischen Theoretikerinnen und Theoretiker zufriedenstellen konnte, ist klar, aber all jenen,
die sich (wie ich) zunächst einmal einen Überblick verschaffen und eine eigene Meinung zu diesem philosophischen Fundamentalwerk bilden
wollen, hat er einen unschätzbaren Dienst erwiesen – insbesondere, weil er Marx nicht „kritisch“ interpretiert,
sondern wohlwollend, aber dennoch nüchtern den größeren Rahmen herausarbeitet, in dem Marx (vermutlich) gedacht hat.
Es ist natürlich nicht ohne Ironie, diese Zusammenfassung noch einmal zusammenzufassen. Im Sinne einer „stillen Post“ ist
zu befürchten, dass Wesentliches auf der Strecke bleibt, und viele traditionelle Marxisten werden ohnehin darauf bestehen, dass Marx
nur verstehen könne, wer ihn im Original gelesen habe. Aber da (nach meiner Einschätzung) Michael Heinrich und ich im gleichen Geiste
arbeiten, wenn wir die Intentionen des ursprünglichen Autors möglichst genau treffen wollen, ohne allzuviel Eigenes beizusteuern,
dürfte auch das Destillat des Destillats noch sehr gehaltvoll sein. Strukturierung bedeutet eben immer auch Verzicht und die
Beschränkung auf das Wesentliche. Angesichts von verbreiteten „Vulgär-Interpretationen“ der Marx’schen Schriften dürfte
der Wert solcher Strukturierungen ihre Gefahren deutlich überwiegen.
Viel mehr will ich an dieser Stelle zu diesem schönen und empfehlenswerten Buch gar nicht sagen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung
mit der marxistischen ökonomischen Theorie ist einem anderen Rahmen vorbehalten. Dabei wird es vor allem darum gehen, herauszuarbeiten,
in welchem Verhältnis Marx‘ Analyse und das Leistungsprinzip stehen, welches bei Oliver Richters und mir eine so zentrale Stellung einnimmt.
Die wenigen Anspielungen in Olivers und meinem Buch Marktwirtschaft reparieren werden der Tiefe des
Themas natürlich nicht gerecht. Aber so viel sei schon gesagt: Was Marx als „Fetischismus“ kritisiert, würde ich als
„soziale Genialität“ interpretieren.
In einer Gesellschaft, die sich unwiderruflich in die Moderne mit ihren indirekten Interaktionsmechanismen katapultiert hat,
sind die Fetischismen geniale soziale Konstruktionen, um die Grundlagen für gerechten, geldvermittelten Tausch zu schaffen.
Das Tragische an Marx‘ Analyse ist einerseits die völlige Unterschätzung der Bedeutung von Rohstoffverbrauch für den ökonomischen
Prozess und die dadurch verursachte Blindheit für die Ursachen der „Zwangsgesetze der Konkurrenz“, und andererseits
die Annahme, dass Lohnarbeit oder sogar Tausch an sich nicht gerecht sein können. Da wird bis heute viel Energie auf die
falschen Baustellen verschwendet. Zudem werfen Marx und alle, die ihm gedanklich nachfolgen, bis heute den buchhalterischen und
den ökonomischen Gewinnbegriff munter durcheinander. Das ist deshalb bedeutsam, weil man durch eine „sorgfältige“
Vermischung der beiden Gewinnbegriffe ganz leicht einen Wachstumszwang herleiten kann, unter der Annahme, dass Unternehmen Gewinne
machen müssen. Dies versuchen Oliver und ich in unserem Buch Marktwirtschaft reparieren
zu entwirren, aber es sieht nicht danach aus, als ob Marxisten an dieser Analyse ein Interesse hätten.
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Irmi Seidl und Angelika Zahrnt (Hg.):
Postwachstumsgesellschaft
– Konzepte für die Zukunft. Metropolis-Verlag, 2010. [Zusammenfassung vom Juli 2012]
Aufsatzsammlung. Zahlreiche Autoren beleuchten insbesondere die Wachstumszwänge
unserer modernen (deutschen) Ökonomie. Mittlerweile einer der Klassiker der deutschen Postwachstumsdebatte.
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Serge Latouche:
Farewell to growth. Polity Press 2011 (2. Auflage). [Zusammenfassung vom April 2012]
Latouche ist einer der Vordenker der französischen Décroissance. Er ist mehr der
leidenschaftliche Romantiker. Bedeutsam ist seine Betonung der kulturellen Dimensionen
einer Wachstumswende.
Welche Texte sind hilfreiche Ergänzungen für „Seitengebiete“ der Diskussion?
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Moralphilosophie I
Michael Sandel: Justice –
what's the right thing to do. Penguin Book London, 2010. [Zusammenfassung vom August 2013]
Einer der bekanntesten politischen Philosophen Amerikas bietet nicht nur einen
exzellenten Überblick über die Hauptzugänge zum Thema Gerechtigkeit (Utilitarismus,
Liberalismus, Aristoteles), sondern diskutiert auch konkrete moralische Dilemmata
und aktuelle politische Streitpunkte unter den Blickwinkeln der verschiedenen
„Schulen“. In seinem Schreibstil verwendet er eine diskussionsoffene, „sokratische“
Methode und steuert zielsicher auf den Kern einer jeden Debatte. Im letzten Kapitel
plädiert er für eine stärkere Berücksichtigung des Gemeinwohls in der Politik.
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Ökonomie
Tomas Sedlacek:
Economics of
Good and Evil – The Quest for Economic Meaning from Gilgamesh to Wall Street.
Oxford University Press 2011. [Zusammenfassung vom März 2013]
Wunderbares Buch über die philosophischen Aspekte der Ökonomie. Sedlacek möchte
aufzeigen, dass Ökonomie immer eine Wissenschaft von Gut und Böse war und sich
als Sozialwissenschaft mit der Hinwendung zur mathematisch-physikalischen Welt
auf einen Irrweg begeben hat. Schwach ist allerdings der Teil, wo es um Konsequenzen
geht – über moralische Appelle an seine Kollegen kommt Sedlacek nicht hinaus.
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Institutionen und gesellschaftlicher Wandel I
Daron Acemoglu und James A. Robinson:
Warum
Nationen scheitern – Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut. S. Fischer,
2. Auflage 2013. [Zusammenfassung vom Dezember 2013]
Das Erscheinen dieses Buches hat 2012 einiges Aufsehen erregt, gelten doch die
beiden Autoren als die Junge Garde der Wirtschaftsgeschichte. Auf über 500 langen
Seiten versuchen sie zu belegen, dass Reichtum oder Armut einer Nation grundlegend
darauf beruhen, ob sie inklusive oder extraktive Institutionen besitzt.
Es handelt sich also um eine Institutionentheorie. Ihre Erkenntnisse sind erhellend,
ihre Beispiele umfassend und ausführlich. Man kann sehr viel dabei lernen. Aber
dennoch hat das Buch neben der Tatsache, dass es zu lang ist und viele Wiederholungen
besitzt, eine ganze Reihe von Schwächen: England wird als Wiege der modernen Demokratie
hervorgehoben, aber nur ganz am Rande gehen Acemoglu und Robinson darauf ein,
dass England zwar intern immer inklusivere Institutionen erzeugt hat, nach außen
jedoch als extraktive Nation aufgetreten ist: Die Engländer haben ihren
Extraktivismus schlicht ausgelagert und ihre eigene Nation zur Elite erklärt,
welche die ganze Welt ausbeutet. Dies ist ein Muster, welches über den Ressourcenverbrauch
letztlich alle Industrienationen pflegen. Auch heben die Autoren geradezu obsessiv
die Bedeutung der „schöpferischen Zerstörung“ des Kapitalismus hervor – als wenn
das der einzige Weg wäre, wie technischer Fortschritt sich ausbreiten könne. Etwas
einseitig ist die wiederholte Berufung auf das „Eherne Gesetz der Oligarchie“
des deutschen Soziologen Robert Michels. Dazu gibt es modernere und besser passende
Autoren, beispielsweise der klassische Aufsatz „Prozesse der Machtbildung“ des
Soziologen Heinrich Popitz von 1968, der die Elitenherrschaft behandelt und den
Mechanismus des weiteren Umfeldes der Nutznießer genauer beleuchtet. Und was den
Zufall angeht, der so oft den Pfad der Geschichte entscheidet: Bemerkenswert oft
war es die bewusste „Deprivilegierung“ (Harald Welzer) von Menschen in (tatsächlichen
oder potentiellen) Machtpositionen, die den Weg in Richtung inklusiver Institutionen
ebnete. Diese Menschen verzichteten (mal mehr, mal weniger) auf Vorteile, die
ihnen ihre gesellschaftliche Stellung ermöglicht hätte, oder sie handelten „gegen
das System“. Dazu gehören Seretse Khama, Wilhelm III. von Oranien, William C.
Wentworth, Lula da Silva und in gewisser Weise auch Deng Xiaoping. Das hätten
sie durchaus (an)erkennen können.
2024 haben Daron Acemoglu und James A. Robinson zusammen mit Simon Johnson für ihre Forschung den sogenannten
Wirtschaftsnobelpreis erhalten.
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Institutionen und gesellschaftlicher Wandel II
John Higley and Richard Gunther (ed.):
Elites
and Democratic Consolidation in Latin America and Southern Europe. Cambridge University Press, New York 1992.
[Zusammenfassung vom Oktober 2015: Einleitung und Teile der abschließenden Übersicht]
Dieses Buch ist die ideale Ergänzung zu Acemoglu und Robinson, denn es konkretisiert den Prozess der
politischen Transformation hin zu stabilen, „echten“ Demokratien. Die Autoren zeigen, dass
das Verhalten von Eliten und nicht der Masse den entscheidenden Faktor darstellt. Für die
Wachstumskritik ist das insofern wichtig, weil oft behauptet wird, „die Menschen“ würden von ihren
Gewohnheiten nicht lassen wollen und jede politische Führung abwählen, die ihnen einen Verzicht zumuten wolle.
Nun ist der Übergang zu Nachhaltigkeit etwas anderes als der Übergang zu einer Demokratie, dennoch ist die
Arbeit von Higley, Gunther und Burton sehr instruktiv. Ich würde es so zusammenfassen: Gesellschaftliches
Versagen ist zuallererst Elitenversagen.
Gut verständlich wird die Bedeutung von Konzessionen aller Beteiligten, insbesondere derjenigen,
die keine weiteren Konzessionen mehr machen müssten, es aber dennoch tun (Deprivilegierung) und damit ein
bestimmtes Klima des Vertrauens schaffen. Was bei Acemoglu und Robinson Zufall ist, findet hier seine Systematik.
Besonders interessant finde ich auch noch einen anderen Aspekt: Eine substantielle gesellschaftliche Einigung
findet hier nicht in einem direktdemokratischen Prozess statt.
Die entscheidenden Verhandlungen und Vertrauensbildungen finden in kleinen, vertraulichen Zirkeln statt,
moderiert von erfahrenen politischen Veteranen. Man kann das als „undemokratisch“ diffamieren,
aber das ändert nichts an der Relevanz – und es ist fraglich, ob es überhaupt anders funktionieren könnte.
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Macht
Heinrich Popitz:
Phänomene der Macht. Acht Abhandlungen. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen,
2. stark erweiterte Auflage 1992 (erste Auflage 1986). [Zusammenfassung vom Januar 2014]
Heinrich Popitz (1925-2002) war ein deutscher Soziologe, der hauptsächlich in
Freiburg lehrte. Sein Interesse an Soziologie war sehr grundsätzlicher Art, er
dachte über die elementaren gesellschaftlichen Prozesse nach und formulierte
seine Erkenntnisse sehr anschaulich, in einer klaren, knappen Sprache literarischer
Qualität, jenseits jedes Fachchinesisch. Seine Monografien sind häufig nur schmale
Bändchen, er gilt als „Meister der kleinen Form“.
„Phänomene der Macht“ ist ein solches schmales Bändchen,
das es in sich hat – ein Meisterwerk (und nebenbei dauerhaft und mit
Abstand auf Platz 1 der Downloads dieser Seite). Popitz
beleuchtet die Macht von Menschen über andere Menschen von allen Seiten, dabei
geht er intuitiv geleitet durch das Thema. Gerne benutzt er Zitate als Illustration
und „Aufhänger“. Der in diesem Buch enthaltene Abschnitt 7 „Prozesse der Machtbildung“
gilt als Klassiker und ist als eine der „Sternstunden der Soziologie“ in das gleichnamige
Buch von Sighard Neckel et al. (Campus Verlag, 2010) aufgenommen worden (so wurde
ich auf ihn aufmerksam). In diesem Essay beschreibt er anhand von ganz schlichten
Beispielen, wie es zu einer Herrschaft von Wenigen über Viele kommt, gegen die
klaren Interessen der Mehrheit. Wer hier die Wörter „Wettbewerbsfähigkeit“ und
„Lobbyismus“ beim Lesen gedanklich mitlaufen lässt, versteht unsere Ökonomie besser,
insbesondere im dritten Beispiel (Machtbildung in einem Internat, S. 216ff.).
Genau das schätze ich an Heinrich Popitz so: Sein eminent ökonomisches Denken,
ohne dass er den Homo oeconomicus bemühen müsste. Aber er hat klar erkannt,
dass und wie das Streben nach Vorteil und das Ausnutzen ökonomischer Chancen Hierarchien
erzeugt, z. B. die „bessere Organisationsfähigkeit“ der Privilegierten im Kampf
um die Liegestühle (S. 187ff.). Für die Frage der Nachhaltigkeit von besonderer
Bedeutung ist auch das Kapitel über Macht durch Technisches Handeln, durch das
Setzen von „Daten“, also objektiven Fakten in die physische Welt.
Eine Lücke sehe ich in seinen Gedanken zu Autoritätsbedürfnissen, bei der „Anerkennung
der Individualität“ („Fünfter Typ sozialer Subjektivität“, S. 151ff.). Hier hat
er m. E. nicht erkannt, welche Rolle das Geld als indirekter Vermittler von Anerkennung
individueller Leistung und des „Andersseins“ in modernen Gesellschaften spielt.
Der „Individualisierung der Anerkennungsbedürfnisse“ entspricht eine „Kollektivierung
der Autorität“, vermittelt über Geld als Medium. Diejenige Autorität, die Individualität
anerkennen kann, verteilt sich auf viele Schultern in der Gesellschaft, von denen
wir die meisten nie persönlich kennenlernen. Deren Anerkennung wird sehr indirekt
gegeben, über die (Höher)Bewertung von persönlicher Leistung. Was mich auch irritiert hat,
ist jegliches Fehlen von Hinweisen auf das Versagen der Institutionen bei den Prozessen der Machtbildung.
Jedes der drei Beispiele spielt in einem organisierten Umfeld: Schiff, Lager, Internat. In jedem
Umfeld versagen die Institutionen, die teilweise die umkämpften Güter (Liegestühle) erst bereitgestellt
haben, und überall wäre die Autorität leicht und klar herstellbar gewesen. Dass Popitz sich diese
Chance hat entgehen lassen, auf die Bedeutung von Institutionen hinzuweisen ...
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Rationalität und Intuition I
Gerd Gigerenzer:
Bauchentscheidungen
– die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Bertelsmann 2007. [Zusammenfassung vom Juni 2013]
Sehr gute Gegenrede zu der These, dass bewusste rationale Entscheidungen immer
die besten sind. Sind sie nämlich nachweislich nicht. Unser Unbewusstes ist mit
einer guten und schnellen Intelligenz ausgestattet, die dem bewussten Denken oft
überlegen ist – aber nicht immer. In diesem Buch wird deutlich, wann was zum Tragen
kommt oder kommen sollte und wie sich viele scheinbar widersprüchliche Phänomene
erklären lassen. Es geht ausführlich auf wichtige Themen wie Präferenzen,
homo oeconomicus, Moral und Institutionen ein. Für die Wachstumsdebatte wird deutlich,
warum simplifizierende Erklärungen so attraktiv sind und warum so viele Menschen
so wenig eigenständig denken.
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Rationalität und Intuition II
Jonathan Haidt:
The Happiness Hypothesis
– Putting Ancient Wisdom and Philosophy to the Test of Modern Science. Arrow Books, London 2006. [Zusammenfassung vom Oktober 2015]
Jonathan Haidt liefert meines Erachtens aktuell die wichtigsten Forschungsergebnisse
für eine zeitgemäße Wachstumskritik. Er ist Sozialpsychologe, und sein Forschungsfeld
sind Intuitionen und Moral. Angesichts der offenen Schwierigen Frage der Wachstumskritik
„Warum können wir nicht aufhören?“ und angesichts des verlässlichen
Scheiterns aller politischen Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit liefert Haidt den wichtigen
Nachweis, dass politische Debatten nicht rational ablaufen – schlimmer noch: Nicht rational
ablaufen können. Dafür steht für die Diskutanden auf beiden Seiten zu viel auf dem Spiel.
Haidt zeigt, dass unser Gehirn kein rationales, sondern ein soziales Gehirn ist.
Seine Aufgabe ist nicht das Urteil eines neutralen Richters, sondern die Verteidigung
eines Mandanten: Die Intuitionen des Ich. Das heißt nicht, dass es Rationalität bei
moralischen Fragen nicht geben könne, aber sie ist selten. In der Regel werden die Begründungen
für moralische Überzeugungen nachträglich konstruiert. Sie stellen die ursprüngliche Intuition nicht infrage.
Für den rationalen Diskurs ist das eine bittere Erkenntnis, aber immerhin erklärt es das
offenkundige Dilemma. „Die anderen“ sind nicht notwendig bösartig oder ignorant,
aber sie haben ebenso starke Intuitionen wie man selbst. Beide Seiten glauben, sie hätten
die Wahrheit gepachtet. In seinem neuesten Buch „The Righteous Mind“ vertieft Haidt das Thema weiter.
Darüber hinaus gibt uns Haidt viele weitere Informationen über uns selbst: Glück, Liebe,
Tugenden und Glaube (mit und ohne Gott). Alles hat eine mentale Grundstruktur, die wir nicht
„überwinden“, aber deren Potential wir nutzen können. Er gibt uns konkrete Hinweise,
was ein gelungenes Leben ausmacht. Glück ist erreichbar, wenn man seine Stärken und Schwächen
kennt und sie klug mit den Möglichkeiten kombiniert.
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Geschichte des Liberalismus
Helena Rosenblatt:
The Lost History of Liberalism –
From Ancient Rome to the Twenty-First Century. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2018. [Zusammenfassung vom September 2022]
Diese ungewöhnliche und kluge Arbeit von Helena Rosenblatt wirft ein anderes Licht auf die Begriffe „liberal“ und „Liberalismus“,
als man es üblicherweise gewohnt ist. Offensichtlich genervt von der einseitigen „amerikanischen“ Interpretation mit einer
Betonung individueller Rechte, des „schlanken Staats“ und wirtschaftspolitischer Zurückhaltung, stellt sie die historische
Entwicklung liberaler Ideen und vor allem die Entstehung und Verwendung der Begriffe seit der römischen Republik dar.
Man erfährt von den französischen Ursprüngen und originär deutschen Beiträgen zur Entwicklung des Liberalismus
ebenso wie von der steten Unsicherheit und Suche nach dem, was den „Kern“ der liberalen Idee ausmache.
Das Buch ist gut geeignet, um sich von zahlreichen Klischees zu verabschieden, und wird genau deshalb
von vielen Hardliner:innen tapfer ignoriert werden.
Deutlich wird in der Analyse von Helena Rosenblatt auch, dass „Liberalität“ eine Tugend darstellt,
deren moralische Qualität praktisch nicht in Frage gestellt werden kann. Der Streit ging und geht entsprechend darum,
was unter Liberalität zu verstehen ist, und die Begriffe werden nach links und rechts gezerrt.
„Liberalismus“ kann stehen für einen aufgeklärten Gemeinsinn oder einen seelenlosen Individualismus,
„Liberale“ sind progressive Vordenker einer modernen Gesellschaft oder hedonistische Zerstörer von traditionellen
Werten und Strukturen. Absolut lesenswert.
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Ernährung
Massimo Montanari:
Der Hunger und der
Überfluss – Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. C. H. Beck 1993. [Zusammenfassung vom April 2013]
Auch dies ein sehr empfehlenswertes Buch, um sich von einer ganzen Reihe von Klischees zu trennen.
Der renommierte italienische Historiker mit dem fachlichen Schwerpunkt „Geschichte
der Ernährung“ schreibt lebendig, ausgewogen und leicht lesbar, wie Europa seit
dem 6. Jahrhundert n. Chr. mit einem steten Wechsel von Hunger und Überfluss
gelebt hat – es gab immer auch Zeiten des Wohlergehens, die allerdings durch steigenden
Bevölkerungsdruck wieder beendet wurden. Dieses Buch macht deutlich, dass Hunger
vor allem durch den Mangel an sozialen Innovationen verursacht und verschärft
wird, und dass Technik allein noch nie geholfen hat, das Problem zu „lösen“.
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Politische Ökonomie, „Grünes Wachstum“
Ralf Fücks: Intelligent
wachsen – Die grüne Revolution. Carl Hanser Verlag München, 2013. [Zusammenfassung vom September 2013]
Fücks ist einer der bekanntesten deutschen Befürworter „Grünen Wachstums“. Er
begründet das wie folgt: Wachstum wird es geben. Wachstum muss es geben. Wachstum
soll es geben. Wachstum hat es immer gegeben. Aber vor allem: Wachstum kann es
geben, nämlich als „Grünes Wachstum“.
Am deskriptiven Teil des Buches von Ralf Fücks ist wenig auszusetzen, viele der
von ihm beschriebenen technischen Innovationen sind „in Arbeit“. Ob das alles
wünschenswert ist, ist eine andere Frage. Aber die meisten seiner ökonomischen,
kulturellen und anthropologischen Argumente, warum es funktionieren kann, sind
fragwürdig, sie werden zurechtgebogen, bis sie passen. Aus jeder noch so schrägen Korrelation
wird eine passende Kausalität, beispielsweise was den klassischen Zusammenhang von
Wachstum, Armut und Mittelalter angeht. Vor allem aber werden wesentliche
Aspekte der Ökonomie schlicht ausgeblendet. Fücks betreibt selektives „Rosinenpicken“,
um zum gewünschten Bild zu kommen. Seine „Flucht nach vorn“ basiert auf einem
mangelhaften Verständnis von Wachstum. Fücks betont immer wieder, man könne die
Zukunft nicht durch Extrapolation der Gegenwart voraussagen. Allerdings bezieht
er das nur auf die momentane Unvorstellbarkeit zukünftiger, bahnbrechender technischer
Innovationen. Ansonsten macht er von dieser Methode selbst gerne und häufigen
Gebrauch, wenn es nämlich um die wesentlichen Eigenschaften des Menschen und seine
kulturelle Prägung geht – da bleibt immer alles beim Alten: Wachstum als Persönlichkeitsentfaltung.
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Leistung
Nina Verheyen:
Die Erfindung der Leistung. Hanser Berlin, 2018. [Zusammenfassung vom Juni 2018]
Da das „Leistungsprinzip“ für mich als soziale Fundamentalnorm von eben
fundamentaler Wichtigkeit ist, greife ich natürlich begeistert nach jeder Neuerscheinung
auf dem Büchermarkt, die sich dem Begriff der Leistung widmet – und um so lieber, wenn das
so wissenschaftlich fundiert erfolgt wie durch Nina Verheyen. Die Historikerin widmet sich
engagiert vorrangig der Begriffsgeschichte von „Leistung“ und den entsprechenden
Leistungsdiskursen, mit einem Schwerpunkt im deutschen Sprachraum. Wie für einen kraftvollen
Begriff der gesellschaftlichen Debatte nicht anders zu erwarten, changiert(e) der Begriff seit
jeher zwischen verschiedenen Polen und wurde mal mehr in diese, mal mehr in jene Ecke gezogen,
entsprechend der (strategischen) Überbetonung oder Vernachlässigung bestimmter Aspekte.
Gut vor allem, dass Verheyen die Idee von „Leistung als bürgerlicher Kategorie“ dekonstruiert:
Bürgerliche Leistung (die so nicht genannt wurde) hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ganz andere Facetten als zu Zeiten
eines entfesselten Industriekapitalismus. Verheyen betreibt aber alles andere als eine plumpe
Leistungskritik, sondern zeigt differenziert und ausgewogen auch das emanzipatorische Potential
eines wohlverstandenen Leistungsbegriffes auf, sofern man eben bestimmte Übertreibungen vermeidet,
und sie liefert eine sehr gute Definition dessen, was eigentlich eine „Leistungsgesellschaft“
ist (sein kann).
Vieles kommt in diesem knappen Band zu kurz: Da fehlen jene, die Leistung auch heute noch grundsätzlich
in Frage stellen (beispielsweise MAUSS – Movement antiutilitariste des Sciences Social, oder auch
weite Teile der sozial-ökologischen Bewegung). Es fehlt die Erwähnung jener Bereiche, wo Leistung völlig
unumstritten ist, wenn sie sich nämlich im wesentlichen über Zeit und Mengen messen lässt,
was häufig der Fall ist. Aber da sie gleichzeitig darauf hinweist, dass das „große
Buch mit den vielen Fußnoten“ (ihre Habilitation) in Arbeit sei, kann man das Buch durchaus
als gelungenen „Zwischenruf“ interpretieren.
Ich habe das Buch betont straff zusammengefasst, auf nicht einmal drei Seiten und eher im Telegrammstil
(im Gegensatz zu anderen Zusammenfassungen auf dieser Seite), denn das Buch ist für meine Zwecke
inhaltlich eher dünn. Es ist deutlich aus der Kontingenzperspektive der Kulturwissenschaften geschrieben,
und ich frage mich, ob die Habilitation davon groß abweichen wird: Betont werden die Historizität
und plastische Formbarkeit des Begriffes, seine kontingente und wechselnde Verwendung, das Fehlen
objektiver Maßstäbe. Unter Verweis auf vielfältige strategische Übertreibungen
plädiert Verheyen für eine „vernünftige“ Interpretation von Leistung zwischen
Verteufelung und Überhöhung, insbesondere auch für eine Abkehr von der geradezu verbissenen
Zuschreibung von (kollektiven) Leistungen an Einzelne. Das ist natürlich alles richtig, politisch
aber nicht zielführend. Dass ein Begriff erst jung ist und kontingent verwendet wird,
sagt für sich genommen noch nicht viel aus, denn entscheidend ist die praktische Bedeutung
des Konzeptes insgesamt, hier von Reziprozität und Äquivalenz. Systematisch vernachlässigt sie den durch und durch
objektiven Kern von Leistung, vor allem seine enge Bindung an materielle Erfolge, also reale Produkte und
reale Veränderungen in der Umwelt zugunsten von „Lebensstandard“ und „Effizienz“.
Verheyen schreibt somit – in einer intelligenten und sachlichen Art und Weise – doch lediglich die
Debatten fort, die sie selbst nachgezeichnet hat.
Das wahre emanzipatorische Potential des Begriffs liegt meines Erachtens in seiner negativen Wendung,
indem man nach den Quellen leistungsloser Einkommen Ausschau hält und diese trockenlegt.
Nur mit dieser Fokussierung auf die „extremen Ränder“ von Leistung kann man den
Begriff von den unergiebigen Diskussionen freihalten und dennoch zu politischen Lösungen kommen.
In einer strikt machtbegrenzten Marktwirtschaft können dann die einzelnen Akteure in der Tat
stets neu verhandeln, was unter Leistung verstanden werden soll.
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Nationalismus
David Leslie Miller:
On Nationality.
Oxford: Oxford University Press, 1995. [Zusammenfassung vom Juli 2018]
Den Oxforder politischen Philosophen David Leslie Miller kenne und schätze ich vor allem wegen
seines Buches „Social Justice“, in dem er für einen Pluralismus von drei Gerechtigkeitsvorstellungen
(Verdienst, Gleichheit, Bedarf) wirbt. Auch wenn ich seinem Gerechtigkeitsmodell nicht ganz zustimme,
so ist die Lektüre seiner Bücher immer ein Gewinn. Kennzeichnend für ihn sind
Gewissenhaftigkeit und Differenziertheit, denn er führt nicht nur sorgfältig gegliedert seine eigenen Argumente an,
sondern wägt sie auch gegen alle ihm bekannten Gegenargumente ab. Das macht ihn zu einem wirklich ausgewogenen Autor.
Er bezeichnet sich als liberal, ohne sich dabei in bestimmte Schubladen stecken zu lassen.
„On Nationality“ ist eine Arbeit, die vor allem unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der Sowjetunion und
der Konflikte in ihren ehemaligen Satellitenstaaten entstanden ist, aber mit der weltweiten Zunahme nationaler Ansprüche
hochaktuell ist. Liberale haben oftmals Schwierigkeiten mit nationalistischen Positionen, weil
sie einerseits bestimmte Vorzüge und Notwendigkeiten eines moderaten Nationalismus anerkennen,
gleichzeitig aber abgestoßen sind von nationalem Pathos und Ausgrenzung. Miller schreibt aus dieser
Perspektive und grenzt sich dabei von einem konservativen Nationalismus ab, dem die Nation über
alles geht, aber auch von einem relativistischen Multikulturalismus, der Nationen am liebsten
abgeschafft sehen würde. Miller plädiert für einen demokratischen und diskursiven
Nationalismus, der mit liberalen Werten gut vereinbar ist. Sein Hauptargument für eine nationale
Identität ist, dass sie eine wertvolle gesellschaftliche Bindungskraft entfaltet, die überhaupt
nicht destruktiv oder ausgrenzend sein muss. Die positiven Seiten von Nationalismus sind eher unauffällig,
werden oft übersehen und ohne großes Nachdenken vorausgesetzt. Dominant im Diskurs sind
Erscheinungsformen, die bewusst ein politisches Ziel verfolgen und dabei gerne nationale Motive instrumentalisieren.
Für die Wachstumskritik ist das Thema Nationalität wesentlich, weil auch dort viele eher
„No border, no nation“ zu ihrem Slogan gemacht haben und dabei übersehen, dass Nationen ganz
wesentlich Solidargemeinschaften und maßgebliche Gliederungen der Weltgemeinschaft sind
(und sein sollen). Das Buch ist sehr dicht geschrieben, was es mir schwergemacht hat, es knapp
zusammenzufassen. Mit 15 Seiten zählt diese Zusammenfassung zu den „langen“, obwohl der eigentliche
Text nicht einmal 200 Seiten hat. Miller hätte sich seine Argumentation meines Erachtens einfacher
gemacht, wenn er stärker auf sozialpsychologische Konzepte von Emotionen und Intuitionen
zurückgegriffen hätte. Eine „rein“ rationale Sicht wird dem Thema Nationalismus nicht gerecht,
weil Emotionen und Intuitionen Rationalität in wertvoller Weise unterstützen (können).
Hingegen hat er dankenswert deutlich die Bedeutung von Gegenseitigkeit (Reziprozität) bei einer
nationalen Identität hervorgehoben und damit die Anschlussfähigkeit zu ökonomischen
Theorien hergestellt. Insgesamt ein sehr lesenswertes Buch, welches einmal mehr deutlich macht,
dass grobe Vereinfachungen kein Privileg einer bestimmten politischen Ausrichtung sind und dass es
kluger Differenzierung bedarf, um sich ein Urteil über ein so komplexes Phänomen wie
Nationalismus zu erlauben.
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Konsum
Roman von Meinhold:
Konsum
– Lifestyle – Selbstverwirklichung. Konsummotive Jugendlicher und nachhaltige
Bildung. Weingarten, Pädagogische Hochschule 2001. [Zusammenfassung vom Juni 2013]
Kurzes Buch mit einigen nützlichen Definitionen und Erkenntnissen zum Thema Konsum.
Welche Texte sind eher was für Spezialisten?
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Bevölkerungswachstum
Massimo Livi-Bacci:
A
concise history of world population. Wiley Blackwell, 2. Auflage 2012. [Zusammenfassung vom Dezember 2013]
Der italienische Wissenschaftler Massimo Livi-Bacci mit dem Schwerpunkt aktuelle
und historische Demografie hat im Laufe der Zeit mehrere Ausgaben dieses Buches
verfasst, das zu den Klassikern der Demografiegeschichte gehört. Wer über das
Thema „Bevölkerungsentwicklung“ und „Druck auf die Ressourcen“ kompetent mitreden
möchte, sollte sich dieses Angebot nicht entgehen lassen, denn auch hier kann
man wieder viel lernen und (wie so oft) von einigen Klischees Abschied nehmen,
insbesondere vom Klischee einer linearen Entwicklung der Menschheit im Sinne eines
Fortschrittes (die Fruchtbarkeit war früher immer hoch, die Ernährung wurde dann
immer besser, die Sterblichkeit immer geringer etc.). Nicht weiter überraschend
ist die grundsätzlich positive Haltung zum Thema Wirtschaftswachstum, allerdings
befasst sich Livi-Bacci am Ende des Buches auch sehr klar und deutlich mit den
Grenzen des Wachstums.
Persönlich fand ich den Abschnitt 5.4 „Bedingungen und Ausblick für die Abnahme
der Fruchtbarkeit und für die Bevölkerungspolitik“ besonders interessant. Eines
muss man sich klarmachen: Eine Wachstumsrate der Bevölkerung von Null bedeutet
im Mittel zwei überlebende Kinder pro Paar – unabhängig davon, ob 10 Milliarden
Menschen auf der Erde leben oder nur Adam und Eva. Eine direkte Steuerung der
Bevölkerungszahl bedeutet also im Mittel keine größere Einschränkung der
Freiheit als jeder andere Weg, auf dem die Wachstumsrate zum Stillstand kommt.
10 Milliarden Menschen auf der Erde sind nicht besser als 5 oder 2 oder
1, aber mit weniger Menschen auf der Welt lassen sich viele Probleme leichter
lösen. Wenn das Bevölkerungswachstum „von selbst“ zum Stillstand kommt: Ist das
Ergebnis dann gut? Oder handelt es sich nicht eher um eine „Geburtenkontrolle
durch individuelle Überforderung“?
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Reziprozität
Frank Adloff, Steffen Mau (Hg.):
Vom Geben und Nehmen
– Zur Soziologie der Reziprozität. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005. [Zusammenfassung vom Januar 2014]
Ein konzentrierter Überblick über Reziprozität, also das Wechselspiel von Gaben
und (verpflichtenden, freiwilligen und allen sonstigen) Gegengaben zwischen Individuen,
Gruppen, Gesellschaften. Reziprozität ist eines der wichtigsten Grundprinzipien
von Gesellschaft, absolut konstitutiv. Dieser Band versammelt neben einer übersichtlichen
Einleitung die beiden Klassiker zum Thema Reziprozität (Mauss, Sahlins) und weitere,
hochspannende und sehr vielfältige Theorietexte (Simmel, Gouldner, Blau, Bourdieu und Caillé). Hinzu kommen fünf
aktuelle Texte über moderne Anwendungsfelder (Familienbeziehungen, Spenden und
gemeinnützige Arbeit, Arbeitswelt, Wohlfahrtsstaat und Entwicklungspolitik). Es
wird deutlich, dass Reziprozität als Thema immer noch hochaktuell ist (und bleiben
wird, solange es Gesellschaft gibt), dass sich aber die Erscheinungsformen wandeln.
Der große Vorzug dieses Bandes liegt sowohl in der qualitativ hochwertigen Übersicht als auch
in der intelligenten und sensiblen Auswahl der Theorietexte, die praktisch alle relevanten
Facetten abdecken (wenn auch ein kleiner Ausflug in die Soziobiologie nicht geschadet hätte).
Auch die Anwendungstexte sind wichtige zusätzliche und aktuelle Ergänzungen. In jedem Text (bis
auf Caillé, bei dem ich die Zusammenfassung verweigert habe ...) stecken andere Aspekte,
die am Ende ein umfassendes, kritisches und anerkennendes Bild von Reziprozität ermöglichen.
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Geldtheorie
Joseph Huber:
Monetäre Modernisierung. Metropolis Verlag, 2010. [Zusammenfassung vom Mai 2012]
Die Idee des Vollgeldes, einer Geldmengenreform, die zu einer Beruhigung der Wirtschaftszyklen
führen würde.
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Naturalismus
Patrick Becker, Ursula Diewald (Hg.):
Zukunftsperspektiven
im theologisch-naturwissenschaftlichen Dialog. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
2011. [Zusammenfassung vom Februar 2014: Vier Aufsätze Evolutionäre Ehtik: Moral (fast)
ohne Metaphysik von Eckart Voland, Verabschieden wir uns von der Willensfreiheit?
von Andreas Klein, Rettet die Quantenphysik die Freiheit? von Winfried
Schmidt, What Has the Mind-Brain Debate Produced, and How Is It Related to
Religion-Science Discussions? von Philip Clayton]
Über den Soziobiologen Eckart Voland bin ich auf diesen Sammelband gestoßen. Mein
Interesse an diesen vier Aufsätzen besteht darin, welche Stellung naturalistische
Argumente eigentlich in der Wachstumsdebatte haben und haben dürfen: Was ist natürlich,
was ist Schicksal, haben wir einen freien Willen, wie funktioniert Moral? Von
der Beantwortung dieser Fragen hängt sehr viel ab – insbesondere unser Gerechtigkeitsempfinden
ist stark dadurch bestimmt, was wir als schicksalhaft hinzunehmen haben und was nicht.
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Methodologischer Individualismus
Gebhard Kirchgässner:
Homo oeconomicus
– Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts-
und Sozialwissenschaften. Mohr Siebeck, Tübingen 4. Auflage 2013. [Zusammenfassung vom Februar 2014]
Der Homo oeconomicus ist ein ziemliches Phänomen: Einerseits ist das Modell
hochumstritten, empirisch zweifelhaft, von vielen empfunden als neoliberale Provokation
und nur ein weiteres Beispiel für den fortschreitenden Verfall von Anstand und
Moral in den Wirtschaftswissenschaften. Andererseits betonen viele Wirtschaftswissenschaftler
und Soziologen, dass ohne Rational-Choice-Ansätze ihre jeweilige Wissenschaft
in ihrer modernen Form nicht denkbar sei. Normativ fragwürdig, aber praktisch
erfolgreich? Ich wollte gerne wissen, was das deutschsprachige Standardwerk zum
Homo oeconomicus darüber sagt, denn ich empfinde aufgrund von Selbstbeobachtung
und der Beobachtung anderer das Modell des Homo oeconomicus (mit einem
weiten Vorteils- und Kostenbegriff) als völlig plausibel (und finde die ersten
15 Seiten von Gary S. Beckers Werk „Die Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens“
eine der besten Beschreibungen menschlichen Verhaltens, die ich kenne). Kirchgässner
beleuchtet das Thema als Ökonom von vielen Seiten, und ich finde, das Buch hat
sich gelohnt. Verblüfft hat mich die geringe Rolle, die Reziprozität in seinen
Überlegungen spielt. Auch zwei weitere Punkte habe ich vermisst: Zum einen Reflektionen
über die verschiedenen Dimensionen von Rationalität (individuelle Rationalität
versus „allgemein anerkannte“ Rationalität), zum anderen glaube ich, dass man
aus der Soziobiologie noch viel mehr ziehen kann, z. B. was die Rolle von Selbstbindung
betrifft.
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Moralphilosophie II
Karl Homann: Anreize
und Moral – Gesellschaftstheorie, Ethik, Anwendungen. Aufsatzsammlung, hg. von Christoph Lütge.
Lit Verlag Münster 2003. [Zusammenfassung vom Oktober 2014]
Karl Homann ist ein sperriger Philosoph. Sein Eintreten für Moral auf der Basis
von Anreizen sowie für Marktwirtschaft und Wettbewerb, sein normativer Individualismus
und seine Ablehnung von dualistischen Positionen und althergebrachten „Werten“
machen ihn vielen „klassischen“ Ethikern suspekt, und dementsprechend vehement
ist teilweise die Kritik, die ihm vor allem eine idealisierende, die Empirie ignorierende
Position vorwirft: Wenn die Rahmenordnung ideal wäre, so wäre es sicherlich auch
die Wirtschaft – aber wie kommt man faktisch dorthin?
Ich bin zu Karl Homann über den hervorragenden
Wikipedia-Artikel
gekommen und war von seinen Grundannahmen sofort sehr angetan, deckten sie sich
doch mit den meinigen. Ich gebe zu, dass er nicht einfach zu verdauen ist: Seine
Lob der Wachstumsgesellschaft ist angesichts des Faktischen schwer erträglich,
und seine Argumentation hat verschiedene Schwächen. Aber wie immer gilt: Die Motivation
eines Argumentierenden beeinflusst nicht die Qualität seines Argumentes, und ich
finde, von Homann kann man viel lernen (ich jedenfalls habe viel gelernt).
Die Seiten 206-209 stellen übrigens innerhalb des Buches eine gute Zusammenfassung
der Homann'schen Gedanken dar, Seite 225ff. auch.
Überzeugend finde ich bei Homann: (1) Die Überwindung von Dualismen. Dualismen
sind in der Regel unproduktiv und schwierig, weil sie zwei Begriffe gegeneinander
ausspielen („Kooperation ist besser als Konkurrenz“) und jeden zur Parteinahme
auffordern. Interessanter (und theoretisch anspruchsvoller) ist das Ausloten der
Möglichkeiten und Grenzen eines monistischen Standpunktes, hier des Vorteilsdenkens
(siehe auch Gary S. Becker). (2) Homann ist einer der wenigen „Strukturalisten“
der Debatte, die immer wieder die saubere Begriffsbildung, die Trennung der Ebenen
und die Definition der Fragestellung einfordern. (3) Der Ansatz, Normativität
aus nicht-normativen Voraussetzungen abzuleiten, ist wegweisend (aber auch widersprüchlich,
siehe unten) – wenn auch nicht Homanns Erfindung. (4) Die Aussage, dass ethisches
Handeln keine Chance hat, wenn es ausgebeutet werden kann, ist schlicht und ergreifend
empirisch richtig, und die Folgerung, daher die Handlungsbedingungen unter
die Lupe zu nehmen (anstelle der Handlungen), ist zielführend. Wir müssen zwingend
auf institutionelle anstelle individueller Lösungen hinarbeiten. (5) Die
Feststellung, dass moderne Ethik häufig „kontraintuitiv und kontraintentional“
sei (S. 20), ist ebenfalls wichtig. Unsere Intuitionen sind zunächst einmal nur
starke Überzeugungen, die unbewusst wirken (siehe das Buch „Bauchgefühle“ von
Gerd Gigerenzer). Wer Ethik als Fach ernst nimmt, muss in der Lage sein, seine
Intuitionen zu überwinden und nüchtern (also rational) zu bleiben. (6) Die saubere
Abgrenzung verschiedener Freiheitsbegriffe und die Ablehnung eines anarchistischen
Multioptions-Modells (S. 124ff.). (7) Die methodisch überzeugende Verankerung
moralischen Lernens in der Theorie, also die gelingende Gratwanderung zwischen
Dogmatismus und Relativismus. (8) Homann denkt die Implementierungsfrage immer
von vornherein mit und stellt sie ins Zentrum seiner Überlegungen.
Gerechtigkeitsvorstellungen, die nicht implementierbar sind, sind nicht impraktikabel, sondern unethisch.
Daher muss „Moral sich lohnen“, und das ist wiederum eine Forderung an die Handlungsbedingungen.
Weniger überzeugend sind hingegen: (1) Die Darstellung der vormodernen Bedarfsdeckungswirtschaft
als Nullsummenspiel (mein Reichtum ist deine Armut) ignoriert, dass unser
heutiger materieller Reichtum ebenfalls auf Kosten anderer gehen wird, nämlich kommender Generationen.
Unser Wirtschaftswachstum kann also bestenfalls innerhalb dieser Generationen Verteilungsprobleme abschwächen
(und lösen ohnehin nicht) – das macht es zu einem ausgesprochen schwachen Argument.
(2) Homanns Programm, Normativität aus nicht-normativen
Voraussetzungen abzuleiten, muss scheitern. Karl Homann macht sich nicht die Mühe,
sein „nicht-normatives Vorteilsstreben“ auf die (verborgene) Normativität zu untersuchen.
Wenn er das Streben nach Kooperationsgewinnen als nicht-normativ bezeichnet, dann
kann er ein Rätsel nicht mehr lösen: Warum soll der Mächtige kooperieren, wenn
er sich doch viel einfacher nehmen kann, was er will? Besonders deutlich wird
diese Schwäche bei seinem Eintreten für Korruptionsbekämpfung (S. 246): Die Agenten
haben nichts zu gewinnen, sondern nur zu verlieren – da gibt es nichts zu beschönigen.
Legal etwas höhere Gehälter sind doch nur ein schwacher Trost für den Verlust
üppiger Bestechungszahlungen. Was hinter dem Suchen nach Kooperationsgewinnen
normativ steckt, ist (wieder einmal ...) das Leistungsprinzip: Jede/r hat das
Recht, die selbstgeschaffenen Früchte selbst zu genießen und sich nicht wegnehmen
zu lassen. Das Leistungsprinzip ist aber weder Naturrecht noch allgemeine Praxis,
wie die Soziobiologie leicht aufzeigen kann, sondern ein normatives Prinzip.
Daraus folgt, dass das Höchste, was man ethisch erreichen kann, ein differenziertes
Normensystem ist (S. 183), welches konsistent aus wenigen, normativ
sparsamen und möglichst allgemeinen Grundannahmen abgeleitet werden kann (die
man auf der Basis der positiven Wissenschaften plausibel macht). Das ist
dann ebenfalls „ohne Metaphysik“ (S. 59), aber nicht ohne Normativität. (3) Die
Herabstufung von „Werten“ als Heuristik und Mittel der Reststeuerung (S. 77) ignoriert,
dass es mehr „Einzelfälle“ gibt, als Homann wahrhaben will. Homann bleibt hier selbst
unterkomplex. Die (zu Recht betonte)
Allgegenwärtigkeit von Dilemmastrukturen stellt uns immer wieder vor grundlegende
Konflikte, die nicht nach vorhandenen Regeln gelöst werden können (siehe Michael
Sandels „Justice“). Die Reststeuerung bleibt ein riesiger Bereich, auch wenn man die großen
Fragen der Ökonomie herausnimmt. (4) Ähnlich wie für Gebhard Kirchgässners Buch „Homo oeconomicus“
gilt auch für Homann: Aus dem methodologischen Individualismus und dem menschlicheren
Vorteilsstreben ist noch viel mehr herauszuholen, was den Homo oeconomicus
mit seinen Kritikern versöhnen könnte. (5) Die Ersetzung von Ergebnisgerechtigkeit
durch Verfahrensgerechtigkeit (d. h. jeder gesellschaftliche Zustand sei gerecht,
der aufgrund gerechter Regeln erreicht wurde) ist zu pauschal (S. 223). Verfahrensgerechtigkeit
ist unter „normalen“ Umständen auch meines Erachtens stets der Vorzug vor Ergebnisgerechtigkeit
zu geben, will man nicht wieder in der „Ökonomie von Gut und Böse“ landen. Ergebnisgerechtigkeit
ist jedoch wichtig an den „äußeren Rändern“: Der Exzess, ein massives Ungleichgewicht,
das Abkippen weiter Teile der Bevölkerung kann nie gerecht sein, egal wie „gerecht“
die Regeln sind. Hier wird sehr wohl (und zu Recht) das inakzeptable Ergebnis
als Ausgangspunkt genommen – aber (und hier gehe ich wieder mit Homann konform)
es kann nur der Ausgangspunkt für die Suche nach besseren Verfahren (Regeln) sein,
und nicht für eine laufende Umverteilung, an die wir uns so gewöhnt haben.
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Moralphilosophie III
Karl Homann:
Sollen und Können – Grenzen und Bedingungen der Individualmoral. Ibera/European
University Press (2014). [Zusammenfassung vom Oktober 2019]
Karl Homann ist der erste Autor, den ich mit zwei Zusammenfassungen würdige, und das spiegelt
durchaus die Bedeutung wider, die ich ihm in den aktuellen Debatten wünschen würde. Homanns Anliegen
in diesem Buch ist es, dem Mainstream der wissenschaftlichen Moralphilosophie aufzuzeigen,
dass er in einer individuell geprägten Motivationsethik verharrt. Es gibt in dieser Ethik moralische Motive,
und es gibt andere (ökonomische, soziale, ...) Motive, und diese werden gegeneinander abgewogen.
Das kann nach Homanns Einschätzung nicht funktionieren:
„Eine Änderung moralisch untragbarer Zustände in Kollektiven wird von einer
gleichgerichteten Änderung der Motive und Intentionen der Mitglieder erwartet.“ (S. 172)
Mit dem Konstrukt des genuin moralischen Motivs ist alles andere in der autonomen Ethik der Philosophie
vorprogrammiert: Konflikt zwischen Wollen und Sollen, Notwendigkeit der Selbstbeherrschung,
persönlich gefärbte Kritik am Verhalten anderer, das Ignorieren (oder sogar Diffamieren) neuer,
zielführenderer gesellschaftlicher Organisationsformen (Institutionen).
Gleichzeitig zeigt Homann gewisse Schwächen der konkurrierenden naturalistischen Ethikansätze auf
und unternimmt dann den anspruchsvollen Versuch einer Integration der beiden Diskurse,
was ihm meines Erachtens gut gelingt.
Ich schätze Karl Homann außerordentlich, weil er einer der wenigen philosophischen Denker ist,
die ordentlich gliedern, verständlich schreiben, keine Scheu vor klaren Kategorisierungen haben
und auch die Konfrontation nicht scheuen, ohne die Konfrontation zu suchen.
Karl Homann ist in diesem Buch ganz offensichtlich um Deeskalation bemüht, vermutlich ein Resultat
seiner Lebens- und Forschungserfahrung. Leider steht er auf verlorenem Posten: Jener Mainstream der
Moralphilosophie, an den er sich wendet, wird ihn unmöglich verstehen, letztlich aus genau den
gleichen Gründen, die Homann als Ursache der Rückwärtsgewandtheit benennt. Zu tief eingeschrieben
in Intuitionen und Emotionen ist der Drang, individuelle Motivation und nicht gesellschaftliche
Strukturen für Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen und entsprechend die „Lösung“ in
moralischer Aufrüstung und einer Stärkung des moralischen Willens zu sehen. Für diesen Mainstream
würde Homann erst verständlich, wenn er seine Positionen im wesentlichen aufgeben würde.
Neben diesem uneingeschränkten Lob der Kernaussagen des Buches, das um so verdienter ist, als dass
Homann wirklich (und schon seit längerem) wissenschaftliches Neuland betritt, gibt es
kleinere und größere Kritikpunkte:
(1) Für die Erklärung des Sinns von Moral (Abschnitt 2.1) ist die naturalistische Sicht
zielführender als der Rekurs auf die christlich-abendländische Tradition. Ich habe den Verdacht,
dass Homann hier ein argumentatives Zugeständnis macht, um besser an den autonomen Ethik-Diskurs der
Philosophie anschließen zu können – taktisch nachvollziehbar, aber inhaltlich schwächer.
Eine ähnliche Stelle findet sich auch noch mal auf S. 154, wo Homann sich vage auf das „gelingende
Leben aller“ als Maßstab bezieht. Der Sinn von Moral ist evolutionsbiologisch die Sicherstellung
von Reziprozität und Äquivalenz, d. h. die Lösung der Trittbrettfahrerprobleme 1. und 2. Ordnung
(Voland 2013) – oder umgangssprachlicher formuliert: das Leistungsprinzip (Richters & Siemoneit 2019).
Generell bleiben durch den fehlenden Bezug auf die allgemeine Gerechtigkeitsnorm „Leistungsprinzip“
alle Beispiele ein wenig blutleer, wenn Homann beispielsweise wiederholt sehr abstrakt von der
„Verlässlichkeit wechselseitiger Verhaltenserwartungen“ spricht. Das ist übrigens in der
Theoretischen Soziologie ähnlich, wo recht allgemein von „sozialer Ordnung“ gesprochen wird.
Worin diese Ordnung eigentlich besteht und was Menschen verlässlich voneinander erwarten dürfen,
bleibt im Dunkeln. Dabei ist es eben die Erwartung des Respekts und der Wertschätzung der eigenen
Leistung und damit gesellschaftliche Institutionen wie garantiertes Eigentum.
(2) Die These der funktionalen Differenzierung (soziologische Systemtheorie, Abschnitt 2.2) ist
wenig hilfreich, weil sie die gesellschaftlichen Subsysteme gleichberechtigt nebeneinanderstellt,
was aber inhaltlich nicht zutrifft. Wirtschaft hat einen völlig anderen Stellenwert als die anderen Systeme,
denn sie ist in einem ganz elementaren Sinn existentiell. Um diese existentielle Rolle wahrnehmen zu können,
ist sie auf die Kooperation von Menschen angewiesen, und die anderen Systeme (insbesondere Justiz und Wissenschaft) dienen vor allem
der Aufrechterhaltung und Stärkung dieser Kooperation. Moral liegt nicht „quer“ zu diesen
Funktionssystemen, sondern ist Ausdruck des unterliegenden Konsenses (Reziprozität und Äquivalenz).
(3) Für mich immer noch unverständlich ist Homanns Idealisierung von Wirtschaftswachstum (Abschnitt 2.2).
Für ihn ist Wirtschaftswachstum einfach ein Faktum der Moderne, welches die Nullsummenspiele der
Vormoderne (mein Reichtum ist deine Armut) erfreulicherweise beende. Das stimmt nicht einmal
in sozialer Hinsicht, und die ökologischen Aspekte werden nur en passant in der Einleitung erwähnt.
Trotz gegenteiliger Evidenz glaubt Homann daran, dass Wachstum ressourcensparend gestaltet werden könne
(ich vermute allerdings, dass er sich nie detailliert mit der entsprechenden Problematik befasst hat).
Verteilungsprobleme werden allerdings nicht durch Wirtschaftswachstum gelöst, sondern durch
soziale Innovationen, die bei Wirtschaftswachstum politisch leichterfallen. An manchen Stellen liegen bei
Homann wissenschaftliche Stringenz und nicht hinterfragte Klischees dicht nebeneinander.
(4) Schade ist seine fehlende Differenzierung der Wettbewerbsmechanismen (Abschnitt 2.2).
Homann unterscheidet einen „natürlichen“ und einen „artifiziellen“ (sozial geregelten) Wettbewerb
(mir gefällt der Vorschlag von Kirchhoff [2015] besser, dies als Konkurrenz und Wettbewerb
begrifflich voneinander abzugrenzen). Wichtiger aber wäre die Einteilung des sozialen Wettbewerbs
in einen Leistungswettbewerb und einen Innovationswettbewerb, weil die zugrunde liegenden
ökonomischen Mechanismen und die sozialen Konsequenzen jeweils völlig andere sind und viele
Formen von „Innovationswettbewerb“ eher als Verwendung leistungssteigernder Substanzen in Form
von Rohstoffen zu bewerten sind (Richters & Siemoneit 2019). Wettbewerb spielt (zu Recht)
eine entscheidende Rolle in Homanns Argumentation, aber erst im Zusammenspiel mit
Ressourcenverbrauch und Leistungsprinzip würde wirklich ein tragfähiges Argument daraus.
Hier braucht Homann sich nicht zu wundern, wenn seine Argumentation für ihre allzu
marktoptimistische Position kritisiert wird.
(5) Homann nimmt Gary S. Becker nicht ernst genug, wenn er meint, ihn in Schutz nehmen zu müssen,
indem er seine Aussagen abschwächt (Abschnitt 7.4). Becker hatte mit der (ökonomischen) Erklärung
menschlichen Verhaltens einen Alleinvertretungsanspruch und hat diesen auch explizit formuliert.
Hier besteht ein ähnliches Dilemma wie oben bereits angesprochen: eine offensive Verteidigung von
Beckers Ökonomik wird vom Mainstream abgelehnt, schon allein, weil sie offensiv ist. Beckers Reputation
außerhalb der Ökonomik ist schlecht, weil er (ähnlich wie Homann) zu viele moralische Intuitionen verletzt.
Eine defensive Haltung wie die von Homann wird hingegen vom Mainstream nicht verstanden, weil sie unklar bleibt.
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Moralphilosophie IV
Felix Ekardt:
Das Prinzip Nachhaltigkeit – Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit.
Beck'sche Reihe 2005 (2. Auflage 2010). [Zusammenfassung vom April 2013]
Ekardt ist ein jüngerer Vertreter der Nachhaltigkeitsposition, Philosoph und Jurist.
Er ist sehr rührig und eloquent, seine Theorie der Nachhaltigkeit umfasst über
500 schwer lesbare Seiten. Dieses Buch hier aus der Beck'schen Reihe ist eine
kurze (ältere) Version davon und liefert einen guten Diskussionsrahmen für eine
liberale Gerechtigkeitstheorie.
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Moralphilosophie V
Thomas Mulligan:
Justice and the Meritocratic State. New York und London: Routledge. [Zusammenfassung vom Dezember 2021]
Thomas Mulligan durchlief berufliche Stationen bei der U.S. Navy und beim CIA,
bevor er eine Universitätslaufbahn als Philosoph und Ökonom einschlug. Er ist Gastdozent an der Georgetown University (Washington, D.C.).
Im Februar 2021 stellte er den Kontakt zu Oliver Richters und mir her und wies uns auf seine Arbeiten hin, nachdem er unsere Diskussionspapiere
zu Gerechtigkeit und Marktwirtschaft gelesen hatte. So wurde ich auf sein „opus magnum“ aufmerksam, eine
meritokratische Theorie der Gerechtigkeit. Im Fachgebiet Philosophie ist das in etwa so selten wie eine Blaue Mauritius,
nachdem John Rawls das Verdienst-Konzept aus dem Kanon der ernstzunehmenden Theorien gestrichen hatte.
Das ist natürlich besonders interessant für Leute wie mich, die seit langem davon überzeugt sind, dass Reziprozität die eigentliche
Grundlage von Gerechtigkeit ist und Verdienst (oder Leistung) die wichtigsten Konzeptualisierungen darstellen.
Toms Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil stellt er allgemein den aktuellen Gerechtigkeitsdiskurs dar,
theoretisch und empirisch, und benennt metatheoretische Anforderungen an eine Gerechtigkeitstheorie. Im zweiten Teil
entwickelt er seine meritokratische Gerechtigkeitstheorie, für die er im dritten Teil Politikvorschläge benennt.
Generell fand ich es beruhigend, dass wir beide unabhängig voneinander auf sehr unterschiedlichen Wegen zu denselben
Schlussfolgerungen gekommen sind. Die Teile, die mir in Toms Buch am besten gefallen haben, sind der gesamte Teil I
und von Teil II Kapitel 6, insbesondere die Abschnitte 6.3 und 6.6, die ich sehr klar und überzeugend fand. Mir hat gefallen,
wie er gegen Rawls, Nozick und den Luck egalitarianism als wichtige Kontrastfolien argumentiert und wie er betont,
dass er bezüglich des Gerechtigkeitsprinzips monistisch ist (Verdienst), während er hinsichtlich der Verteilungsziele pluralistisch ist.
Ich schätze sehr seine ökonomische Sichtweise, die neoklassischen Modelle und die Bedeutung der Opportunitätskosten –
ein so wichtiges Konzept, das in einem Großteil der sozialwissenschaftlichen Literatur fehlt. Besonders hervorzuheben ist natürlich
seine „negative“ Definition von Verdienst und ihre Verwendung als politische Strategie
(„es ist effektiver zu bestimmen, was kein Beitrag ist“).
Mir gefällt auch, dass unsere Zugänge zum Thema Gerechtigkeit komplementär sind. Toms Ansatz ist philosophisch und ökonomisch fundiert,
argumentativ und (in meiner Wahrnehmung) eher aus der kollektiven Perspektive, während meiner naturwissenschaftlich fundiert ist, materiell
und eher aus der individuellen Perspektive. Dennoch gibt es eine Reihe von Kritikpunkten, von denen ich die bedeutsamsten hier nennen will.
Ich bin als Naturwissenschaftler ausgebildet und glaube, dass unsere physische Welt und unsere biologischen Notwendigkeiten
unsere „Kultur“ prägen und daher der Ausgangspunkt der Sozialwissenschaften sein sollten (Marvin Harris: „Cultural
Materialism“. Ich weiß, dass viele Philosophen und Kulturwissenschaftler einen solchen „biologistischen“ Ansatz nicht schätzen).
Dementsprechend habe ich meinen Artikel über Gerechtigkeit mit der Evolution von Reziprozität begonnen und gezeigt, was die Menschen daraus gemacht haben.
Ich finde es merkwürdig, dass Toms Argumentation manchmal „rein philosophisch“ und linguistisch statt inhaltlich ist.
Hier werden Feinheiten der Bedeutung von Begriffen erörtert und bestimmte Schlagwörter der philosophischen Debatte abkürzend wie ein Argument verwendet.
Beispiele sind das „aboutness principle“, die Diskussionen über „originated in“ und die „Essentialität“
von Genetik, seine „final note“ in Kapitel 7 oder der fünfte Punkt auf S. 57.
Abschnitt 5.2 fand ich besonders wenig überzeugend: Der Satz „Es gibt kein 'Warum'“ ist einfach nicht wissenschaftlich,
und ich frage mich, warum die Identität eines Menschen ein substantielles Argument sein soll.
Diese Passagen wirken auf mich wie philosophische Haarspalterei.
Ein weiterer Punkt: Jeder soziale Austausch hat drei (abstrakte) „Teilnehmer“. Das sind die Individuen,
„Erbringer“ und „Empfänger“ einer Leistung, und ihr Kollektiv (die Gesellschaft), welche die Transaktion
beobachtet und das Gemeinwohl wahrt. In einigen der Diskussionen in seinem Buch vermisse ich den „Empfänger“ einer Leistung,
z. B. den Käufer eines Produkts, den Arbeitgeber, die Bildungseinrichtung, die von einem sozialen Austausch einen Nettonutzen erwarten
und mit anderen potenziellen „Empfängern“ im Wettbewerb stehen. Sie können ein Interesse daran haben, mehr zu zahlen,
als dem „Erbringer“ in den Augen des Kollektivs zusteht. Eine solche Passage in Toms Buch ist die Frage, ob „bessere Genetik“
ein höheres Einkommen rechtfertigt. Die Antwort eines potenziellen Arbeitgebers ist meines Erachtens hier relevanter als die
„Essentialität“ von Genetik. Auf der anderen Seite setzt das Interesse der Individuen dem Kollektiv Grenzen für das, was besteuert
und für das Gemeinwohl verwendet werden sollte, wie etwa Bildung. Chancengleichheit ist oft mit enormen Opportunitätskosten verbunden,
und es ist absolut nicht klar, inwieweit die vom Schicksal Begünstigten verpflichtet sind, dafür zu zahlen, dass die Benachteiligten
in den Genuss dessen kommen, was einige Menschen (kollektiv ...) als Chancengleichheit betrachten. Aus soziobiologischer Sicht steht
das Individuum an erster Stelle und das Gemeinwohl an zweiter – es muss allen dienen. Das ist die allgemeine Spannung der Gerechtigkeit.
Ein Großteil der philosophischen Literatur betont zu stark die (vermeintlichen) Interessen des Kollektivs.
Meines Erachtens sollte Tom dieses „Spannungsdreieck des Austauschs“ expliziter ansprechen.
Das ist auch ein Grund, warum meine Argumentation ihren Ausgang in Reziprozität nimmt. „Verdienst“ ist eine kommunizierbare
Konzeptualisierung von Reziprozität, nicht umgekehrt. Im Zweifelsfall muss man nach der Kosten-Nutzen-Bilanz des Tausches fragen
(einschließlich der Investitionen durch Selbstbindung).
Auch die Anwendung des „Singer-Tests“ (welche Opportunitätskosten hat eine politische Maßnahme?) hat mir nicht gefallen.
Es ist nicht fair, mit hungernden Kindern in Afrika zu argumentieren, ohne das Problem der Reziprozitätsverletzung durch zu viele Kinder,
welche die ökologische Tragfähigkeit einer Region (in einem schwachen Sinne) überschreiten, auch nur zu erwähnen.
Reproduktion dient dem persönlichen Vorteil, und wenn das auf Kosten anderer geschieht, ist es nicht legitim (ich bin mir bewusst, dass die so genannten Industrieländer mit ihrem ökologischen Fußabdruck ebenso die ökologische Tragfähigkeit ihrer Region weit überschreiten). „Hunger beenden“
ist ein ziemlich zweideutiges Ziel.
Auf S. 194 stellt Tom fest: „Wenn Robert seinen neuen Reichtum investiert, erhält er einen Einkommensstrom, der unverdient ist“
– das ist meiner Meinung nach zu pauschal. Kapitaleinkommen sind nicht per se unverdient. Kapital ist eine Investition, und Investitionen
sind Kosten, die noch nicht ausgeglichen wurden. Sie verdienen eine Entschädigung, aber nur bis zu einem „gewissen Grad“.
Das Gleiche gilt für Arbeitseinkommen (wie Tom an anderer Stelle korrekt bemerkt). Meiner Meinung nach sollten wir genau diese Diskussionen vermeiden,
indem wir uns auf Nicht-Leistungen konzentrieren. Wenn Märkte Kapital mit Zinsen honorieren, dann kann man sicher sein, dass Kapital dies
grundsätzlich verdient (wenn auch nicht in jedem Einzelfall). Märkte sind reziprok, wenn nicht allzu viel schief läuft.
Schließlich bin ich mit seinen Vorschlägen zu einer sehr hohen Erbschaftssteuer (bis zu 100 %) absolut nicht einverstanden.
Das ist sicherlich die Stelle in seinem Buch, der ich am stärksten widerspreche.
- Soziobiologisch betrachtet, ist Fortpflanzung der vorrangige „Sinn des Lebens“. Es ist die Daseinsberechtigung von Eltern,
es ist die Grundwährung der natürlichen Selektion. Dies zu vernachlässigen, beraubt die Diskussion ihres wichtigsten Aspekts.
Ich sehe keinen Grund, warum der „ökonomische Zähler“ mit der Geburt zurückgesetzt werden sollte (siehe auch das Problem
der „kollektiven Sichtweise“ weiter unten). Eltern investieren nicht für sich selbst, sondern für ihre Kinder,
und diese Investition durch eine hohe Erbschaftssteuer zu beschneiden, bedarf eines sehr starken Arguments.
Es ist nicht „die Gesellschaft“, die die Hauptlast der Kindererziehung trägt, und es gibt gute Gründe, diese elterlichen Investitionen
zu respektieren.
- Ich sehe kein gutes Argument, warum für Erbschaften dieselben kollektiven Regeln gelten sollten wie für wirtschaftliche Transaktionen
zwischen Nichtverwandten. Eine Erbschaft ist kein Einkommen im Sinne eines freiwilligen Austausches von Gütern. Die „Güter“,
die bei einer Erbschaft „ausgetauscht“ werden, sind viel komplexer.
- Das „Verdienstpotential“ von Kapital ist keine Eigenschaft des Anlegers, sondern des Kapitals, so dass die Vererbung kein Grund ist,
die Verzinsung einzustellen. Stelle man sich eine Anlage vor, die kurz vor dem Tod des Anlegers getätigt wurde. Seine Tochter hat natürlich nicht nur
Anspruch auf die Zinsen, sondern sie verdient sie auch moralisch, weil ihr Vater das Geld sonst direkt zu ihrem Vorteil hätte verwenden können
(z. B. für ihre Ausbildung).
- Tom diskutiert das ganze Thema ausschließlich vom kollektiven Standpunkt aus und vernachlässigt die Interessen der Beteiligten im engeren Sinne
(z. B. wenn er diskutiert, wer ein Erbe am ehesten produktiv nutzen könnte).
Meiner Meinung nach identifiziert Tom das Problem nicht korrekt: Nicht Vererbung ist das Problem, sondern Akkumulation, die durch die schiefe
Einkommensverteilung zugunsten ressourcenintensiver Berufe noch verstärkt wird. Tom vernachlässigt nicht nur die soziobiologische Sichtweise,
sondern das gesamte Thema des Ressourcenverbrauchs („Material doping“). Dies ist der wesentliche Grund dafür, dass Arbeitsplätze
so knapp sind, dass Chancengleichheit heute so ein vorherrschendes Thema ist. Ich würde Erbschaften überhaupt nicht besteuern, aber alle Einkommen
oberhalb eines bestimmten Schwellenwerts stark besteuern, unabhängig davon, ob sie vordergründig auf Verdienst beruhen oder nicht, plus eine moderate,
aber progressive Steuer auf Vermögen. Wir müssen die persönliche Akkumulation abschaffen.
Aber diese Kritikpunkte ändern nichts an der Tatsache, dass dieses Buch eines der wichtigsten der letzten Jahre ist.
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Soziobiologie
Eckart Voland: Soziobiologie
– Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz. Springer Verlag Berlin und Heidelberg,
4. Auflage 2013. [Zusammenfassung vom November 2014]
„Kooperation ist besser als Konkurrenz!“ – Viele Menschen stimmen diesem Satz
spontan zu. Aber stimmt er deshalb? Um mich diesem Thema zu nähern (und
weil ich Eckart Volands Schriften in der moralphilosophischen Debatte schon mehrfach
begegnet war), wählte ich sein akademisches Lehrbuch einer Einführung in die Soziobiologie.
Die schöne Verbindung von wissenschaftlicher Präzision mit verständlicher, knapper
Sprache hat mir die Einarbeitung in dieses Fach sehr leicht fallen lassen. Auch
kommt mir der konsequent naturalistische Standpunkt sehr entgegen: Es gibt keine
Metaphysik, „auch auf der Erde geht alles mit rechten Dingen zu“ (wodurch sie
nichts an Buntheit verliert). Nebenbei: Eckart Voland ist Mitglied im Wissenschaftlichen
Beirat der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung (die mir persönlich etwas
zu laut ist).
Dieses Buch erfordert zumindest eine gewisse Vertrautheit mit (lateinisch-griechischer)
Fachsprache. Es ist ein Lehrbuch und kein Sachbuch, und bei den Feinheiten der
Genetik auf den ersten Seiten musste ich passen (was aber das weitere Verständnis
nicht beeinträchtigt). Das Buch lässt sich leicht lesen, weil es gut strukturiert
und inhaltlich gut aufbereitet ist. Voland lässt seine Leser nicht im Stich, wenn
es um die Einordnung ins große Ganze geht. Konsequent macht er die konstitutionelle
Rolle der Genetik im evolutionären Prozess deutlich, wie sich alles (aber auch
wirklich alles) um das sogenannte „egoistische Gen“ dreht(e). Dabei hält er
sorgfältig deskriptive und normative Sichten auseinander und ist auch insofern
ein guter akademischer Lehrer. An vielen Stellen bringt er durch eine umgangssprachliche
Formulierung die Fakten auf einen leicht verständlichen Punkt. Sehr interessant
(wenn auch knapp) sind die in der vierten Auflage neu hinzugekommenen Kapitel
über die menschliche (Nicht-)Sonderstellung in der Natur und die funktionale Angepasstheit
von Kultur, Moral und Religion.
Daneben ist das Buch auch einfach lustig: Menschliches und tierisches Paarungsverhalten
beispielsweise hat so viele (Achtung: Anthropomorphismus!) heitere Facetten, und
vieles im Verhalten von Männern und Frauen wird einem beim Lesen klarer.
Fazit: Der Mensch ist ein Homo oeconomicus, und dieses Buch ist ein weiterer
exzellenter Beitrag, um zu verstehen, warum daran nichts Schlimmes ist. Unser
„Problem“ liegt woanders.
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Lernpsychologie
Guy Bodenmann, Meinrad Perrez, Marcel Schär:
Klassische Lerntheorien
– Grundlagen und Anwendungen in Erziehung und Psychotherapie. Hogrefe Verlag, Bern,
3. Auflage 2016. [Zusammenfassung vom April 2018]
Zur Lernpsychologie bin ich gekommen, weil in der wachstumskritischen Bewegung (und nicht nur dort)
„Bildung“ ein großes Thema ist, mit dem vor allem die Hoffnung verbunden
wird, einen „kulturellen Wandel“ vorantreiben zu können. Viele staatlich finanzierten
Projekte verstehen sich als Bildungsprojekte, für nachhaltige Entwicklung, für
bewussteren Konsum, für dieses und jenes. Aber was kann Bildung tatsächlich bewirken?
Wie „funktioniert“ Bildung?
Ob ich mit dem Band von Bodenmann, Perrez und Schär den besten Griff getan habe, weiß
ich noch nicht. Vorteilhaft ist sicherlich die gute Struktur. Die Kapitel sind einheitlich und
systematisch aufgebaut. Das Buch macht einen vollständigen Eindruck, ist verständlich und
modern. Dabei bleibt es kompakt, andere Lehrbücher zum Thema sind weitaus umfangreicher.
Allerdings habe ich selten ein Buch (in der 3. Auflage!) erlebt, welches so lieblos lektoriert ist.
Schreibfehler sind noch das geringste Problem. Die Überschriften werden nicht konsequent
durchgehalten, und die Gliederungsebenen und ‐tiefen sind zahlreich und oft schwer zu erkennen,
weil es neben der nummerierten dreistufigen Gliederung noch mehrere schwer abgrenzbare Unterebenen
gibt. Manche Textteile würden besser woanders stehen. Teilweise werden Begrifflichkeiten
nicht sauber durchgehalten, und es gibt schlechte Übersetzungen englischer Begriffe.
Mehr Mut zum eigenen Ausdruck und zur einen oder anderen „knackigeren“ Formulierung
hätte den Autoren gut angestanden, und ein Lektorat hätte zahlreiche Formulierungen
sprachlich glätten müssen. Nun gut. Ich habe mir die Freiheit genommen, zumindest die
Zusammenfassung klarer zu gestalten. Die Abschnitte zur Anwendung habe ich sehr knapp gehalten,
weil sich das Lehrbuch hier vor allem an die Kliniker richtet.
Inhaltlich hat das Thema meine Erwartungen voll erfüllt: Lernpsychologie ist interessant,
und für Bildungsprojekte sieht die Sache eher düster aus. Ein entscheidender Faktor
für Lernprozesse ist die Motivation, und angesichts enormer Anreize für nicht nachhaltiges,
ungerechtes und ökonomisch destabilisierendes Verhalten ist zumindest die Hoffnung weit überzogen,
man könne auf diese Weise langsam „von unten“ eine bessere Gesellschaft heranbilden.
Ohne institutionelle Änderungen der Rahmenbedingungen bleibt das buchstäblich eine Sisyphos-Arbeit,
und Bildungsarbeit wird vor allem diejenigen erreichen, die ohnehin schon interessiert sind.
Nicht dass sie völlig wirkungslos wäre, aber das Aufwand-Nutzen-Verhältnis ist meines
Erachtens durchgehend schlecht.
Aus der Lernpsychologie kann man noch andere Sachen mitnehmen, die nicht so gut zu den Doktrinen
des wachstumskritischen Mainstreams passen. Lernpsychologie ist in weiten Bereichen deckungsgleich
mit Verhaltenspsychologie, und diese zeigt: Menschen sind Strategen, die auf Anreize reagieren und
langfristig kalkulieren – wenn es sich denn lohnt. Der Nutzenmaximierer lässt grüßen.
Die gesamte Grundlage der Rational-Choice-Theorie findet man hier sauber ausgebreitet, so dass (erneut)
deutlich wird, dass RC oder auch die Neoklassik nicht einfach nur „erfundene Dogmen“ sind,
sondern ein gutes empirisches und theoretisches Fundament in der Psychologie haben – was gewisse
Übertreibungen und politische Instrumentalisierungen nicht entschuldigt. Aber RC und Neoklassik
„überwinden“ zu wollen, bedeutet kurz und knapp Anti-Wissenschaftlichkeit.
Aber auch für den gesellschaftlichen Mainstream findet sich hier Lesenswertes (nur will der das
auch nicht hören). Durchgängig finden sich Hinweise, dass funktionalistische Interventionen
(typisch für Politik) reichlich unerwünschte Seiteneffekte haben können.
Noch bemerkenswerter fand ich die Tatsache, dass sich in der Lernpsychologie unterschwellig die ganzen
Themen der gesellschaftlichen Debatten wiederfinden. Die Kategorien, anhand derer Verhalten eingeteilt
wird, fallen mit den strittigen Punkten direkt zusammen: Extrinsische und intrinsische Motivation,
primäre (biologische, igitt) und sekundäre Verstärker, unbewusste Konditionierung und
bewusste Entscheidung – die Kategorien der Lernpsychologie sind von moralischer Relevanz geprägt,
von polaren Frontstellungen wie Wille ~ Instinkt, Freiheit ~ Manipulation, Kultur ~ Natur.
Aber wie sollte es in einer genuinen Sozialwissenschaft auch anders sein ...
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Evolutionsbiologie und Moralpsychologie
Emerich Sumser:
Evolution der Ethik
– Der menschliche Sinn für Moral im Licht der modernen Evolutionstheorie. Berlin: De Gruyter 2016.
[Zusammenfassung vom Juni 2019]
Emerich Sumser ist studierter Theologe und Biologe (Hauptfach Evolutionsbiologie), und dieses Buch ist
seine Dissertation – ein interdisziplinäres Projekt, welches unter anderem der Frage nachgeht, ob
sich diese beiden Fächer konsistent verbinden lassen, wo doch das eine von einem transzendenten,
intentionalen Schöpfer ausgeht und das andere von einem sehr irdischen, ungerichteten Entwicklungsprozess.
Das ist sicherlich ein interessantes Feld, aber was mich vor allem an diesem Buch interessiert hat, ist die
ausführliche und saubere Ausbreitung des aktuellen (!) Standes der Evolutionsbiologie und der
Moralpsychologie, zweier Fächer, in denen in den letzten zwanzig Jahren extrem viel passiert ist
(und was insbesondere bei der Evolutionsbiologie kaum wahrgenommen wird).
In diesem Punkt verdient das Buch uneingeschränkt ein großes Lob. Die Darlegung ist grundsätzlich gut
lesbar und ordentlich gegliedert. Sumser wahrt die wissenschaftliche Distanz und legt die Stärken und
Schwächen der jeweiligen Theorien nüchtern dar. Mit der eigenen theologischen (katholischen) Zunft geht
er dabei durchaus kritisch um und fordert sie beispielsweise auf, das Lehramt nicht gegen gute Wissenschaft
auszuspielen (S. 10), oder er stellt dar, warum Metaphysik und Selbsterleben für die Begründung von Moral
problematisch sind (S. 359). Sumser hat sich die Mühe gemacht, alle Ausführungen sauber mit aktueller
wissenschaftlicher Literatur zu unterlegen (musste er ja auch, ist ja seine Promotion :-). Es wird derzeit
kein anderes Buch geben, welches derart umfassend den aktuellen Stand der beteiligten Fachrichtungen darstellt.
Zwei Kritikpunkte gibt es meinerseits, einen formalen und einen inhaltlichen. Die vielen redaktionellen Fehler
machen das Lesen oft mühsam. Das betrifft vor allem die erratische Kommasetzung oder -weglassung, bei der
anscheinend auch englische Regeln auf die deutsche Sprache übertragen wurden (ein Phänomen, das im Bereich
der Wissenschaftsliteratur mittlerweile häufiger anzutreffen ist). Viele Sätze musste ich mir mit dem
Bleistift kommatechnisch „rekonstruieren“. Etwas unkritisch wurden auch in anderen Fällen
ungeeignete Anglizismen übernommen. Manche Satzkonstruktionen sind erst im zweiten Anlauf lesbar. Die
Gliederung ist zwar ordentlich, aber nicht ausgewogen: Abschnitte, die formal auf der zweiten
Überschriftsebene liegen, können zwei Seiten, aber auch fast 30 Seiten haben – und das
unmittelbar hintereinander. Entsprechend wird manchmal bis zur vierten Ebene durchnummeriert.
Hilfreich ist das dann nicht mehr. Ein professionelles Lektorat hat ganz offensichtlich nicht
stattgefunden. Allerdings sind diese Mängel verzeihlich. Eine Promotion dieses Umfangs ist kein
Ressourcenparadies, weder für den Autor noch für den Verleger, und man sollte vor allem die Leistung
von Emerich Sumser und die Bereitschaft des Verlages würdigen, diese umfassende Kompilation des
aktuellen Forschungsstandes zu Moral auf diesem Wege der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
Der inhaltliche Kritikpunkt betrifft allerdings einen Kern des Buches, nämlich die inkonsequente und
damit etwas willkürliche Handhabung von zentralen Begrifflichkeiten wie Eigennutz, Egoismus, Altruismus,
Reziprozität und Rationalität. Fast durchgängig wird Eigennutz mit Egoismus gleichgesetzt (vor allem
in Abschnitt 5.1). Damit folgt Sumser der generell unklaren Definition von Egoismus (und Altruismus,
siehe die ernüchternden deutschen Wikipedia-Artikel). So wie Sumser die Begriffe verwendet, lässt
sich jedes Verhalten dichotom entweder als „egoistisch“ oder als „altruistisch“
klassifizieren – ein Dualismus von Gut und Böse, der natürlich gut zum behandelten Thema passt.
Der Gipfel der Verwirrung ist dann mit dem „reziproken Altruismus“ erreicht (ein Begriff, der allerdings
nicht Sumser anzulasten ist, sondern dem Altmeister der Soziobiologie Robert Trivers): Altruismus,
der unmittelbar oder später doch wieder nützlich für den Handelnden ist. Was ist dann damit
gewonnen, wenn Sumser herleitet, dass es „genuinen“ Altruismus beim Menschen gibt?
Wissenschaftlich zielführender wäre es, Egoismus und Altruismus eng zu definieren: Egoismus ist Handeln
für sich auf Kosten anderer, Altruismus ist Handeln für andere auf eigene Kosten –
und zwar ohne versteckte oder spätere Hintertüren (siehe auch hier, Juli 2020).
Damit wäre dann das weite Feld für reziprokes
Handeln eröffnet, so wie ich das in meinem Fachartikel
Merit first, Need and Equality second
skizziere: Handeln, welches mir und dem anderen nützt, weil wir uns durch Kooperation beide
besserstellen können. Die Begriffe wären dann geschärft und analytisch wieder hilfreich, weil gerade
in modernen Marktgesellschaften fast alles Handeln ziemlich unauffällig reziprok ist, entweder
„intrinsisch“ oder durch Institutionen durchgesetzt.
Ein anderes Beispiel für den unpräzisen Umgang mit Begriffen ist die faktische Gleichsetzung von
Rationalität mit Bewusstheit. Man fragt sich, wofür man dann zwei Begriffe benötigt, zumal an einigen
Stellen dieses Muster inkonsequenterweise aufgebrochen wird, wenn bewusste und unbewusste Prozesse
ohnehin nie getrennt auftreten (S. 291) oder die Moralpsychologin Darcia Narvaez rationalen Einfluss
auch in den Intuitionen sieht (S. 281).
Emerich Sumser merkt nicht, dass diese Begriffe mit Normativität durchtränkt sind, von Menschen
strategisch eingesetzt werden und eher soziale Aushandlungsprozesse als klare Konzepte darstellen.
Niemand wird je „eindeutig“ definieren können, was Egoismus und Altruismus oder
Rationalität und Bewusstheit bedeuten, weil diese Begriffe als Waffen auf den Schlachtfeldern
des Diskurses das gar nicht hergeben. Aber das könnte man ja zumindest mal thematisieren in
einem solchen Buch, anstatt mit unscharfen Definitionen zu operieren und sich in Widersprüche
zu verstricken – und einem wissenschaftlichen Werk eine Moralität zu unterlegen, die dort
eigentlich nichts zu suchen hat.