ANDREAS SIEMONEIT
Eine konstant wiederkehrende Erfahrung in meiner Forschungsarbeit und bei meinen Verbreitungsversuchen ist Unverständnis, Skepsis, Widerstand. Insofern ist alles wichtig, was einem besseren Verständnis dienen kann, und manchmal sind eher spontan geschriebene Texte dafür besser geeignet. Hier auf dieser Seite habe ich „Gedankenblöcke“ abgelegt, welche bestimmte Aspekte erläutern, die (bisher) keinen besseren Ort gefunden haben, insbesondere auch nicht ins relativ knappe Manifesto passen.
Juli 2020 |
Aus einer E-Mail an den Deutschlandfunk, als Leserbrief zu „Essay und Diskurs: Der Mensch in Zeiten der Katastrophe“ von Andreas von Westfalen (19.07.2020): Die Einteilung menschlichen Verhaltens nur in egoistisch und altruistisch lässt wenig Raum für jenes Verhalten, welches den überwältigenden Anteil aller Interaktion ausmacht, nämlich reziprok. Hier herrscht allerdings eine ziemliche Sprachverwirrung. Ich habe das mal in einer Grafik veranschaulicht. Soziobiologen und Sozialwissenschaftler (im engeren Sinne) leben hier buchstäblich in verschiedenen Begriffswelten (Ökonomen lassen sich in dieser Frage nicht eindeutig einer dieser beiden Gruppen zuordnen ...). Eigentlich ist Altruismus ein Verhalten, welches anderen auf eigene Kosten einen Nutzen bringt (Nutzen und Kosten in einem breiten Sinne). Egoismus auf der anderen Seite ist ein Verhalten, welches einem selbst Nutzen auf Kosten anderer bringt. Es gibt aber auch sehr viel (eigentlich überwiegend) soziales Verhalten, welches beiden Seiten per Saldo Vorteile bringt: Mutualismus, Tausch, Kooperation. Das ist möglich, wenn der Nutzenzuwachs für die beiden Partner jeweils eine andere Kostenstruktur hat. Anschaulich: Wenn ich Schuhe herstelle und jemand anders Geflügel züchtet, dann können wir uns durch Tausch beide besser stellen, weil mich weitere Schuhe wesentlich weniger kosten als Geflügel selbst zu züchten und ich einen Geflügelmangel habe, und umgekehrt (beiderseits höherer Grenznutzen, geringere Grenzkosten). Gütertausch ist eine der einfachsten Formen reziproken Verhaltens: Vorteile für beide durch sozialen Tausch. Die Soziobiologie befasst sich (im wesentlichen retrospektiv) mit der Entstehung und evolutionären Stabilisierung von Sozialverhalten
bei allen Arten. Da über den größten Teil der Entwicklung hinweg kulturelle Evolution weder beim Menschen noch bei anderen Arten eine
wesentliche Rolle spielte, konnten Verhaltensänderungen lange Zeit fast nur genetisch weitergegeben werden. Genselektion war also der
entscheidende Mechanismus, und hier hat Altruismus einfach keine Chance. Altruistisches Verhalten in diesem engen Sinne (eigentlich:
eine Form von Selbstaufgabe) wurde aussortiert. Egoistisches Verhalten hingegen ist weit verbreitet, weil es (wen wundert’s) viele Vorteile
bietet – vorausgesetzt, es bleibt unbemerkt und wird nicht sanktioniert (Trittbrettfahrerproblem 1. und 2. Ordnung). Die Sozialwissenschaften hingegen betrachten Verhalten bereits dann als altruistisch, wenn jemand einem anderen Nutzen verschafft,
ohne dabei offensichtlich auf seinen Vorteil zu schauen, und sie sind damit gut anschlussfähig an die sprachliche Nutzung im Alltag.
Egoistisch ist Verhalten bereits dann, wenn eigene Vorteile bewusst in Betracht gezogen werden. Ob das auf Kosten anderer passiert (eigentlich die Definition
von Egoismus) oder nicht, ist dann bereits egal. In dieser Definition sind normaler marktwirtschaftlicher Tausch, Arbeit gegen Einkommen,
gegenseitige Hilfe etc. „egoistisch“, und jeder Beitrag zum Gemeinwohl ist „altruistisch“. Warum dieser ganze Streit um Begriffe? Weil sehr viele Menschen (auch in den Wissenschaften) sich sehr viel von dem Nachweis versprechen, dass Altruismus, intrinsische Motivation, Gemeinwohlorientierung zum „Wesen des Menschen“ gehören, dass es genuine Gruppenselektion gibt (siehe [3]). Man erhofft sich von dieser naturalistischen Begründung eine bessere Argumentationsposition gegenüber dem Neoliberalismus, dem Kapitalismus, den Mainstream-Ökonomen, der sozialen Kälte der FDP etc. Aber wenn es ein „Wesen des Menschen“ gibt, dann ist es am ehesten reziprok. Niemand verteilt Geldscheine im Bus (das wäre „echter“ Altruismus), sondern Menschen handeln „altruistisch“, wenn sie sich davon Vorteile versprechen. Nur spricht man dann nicht von „Vorteilen“ (die sich in der Regel weder benennen noch objektivieren lassen), sondern eher davon, „etwas Sinnvolles zu tun“, „anderen Gutes zu tun“, „sich zu engagieren“ oder ähnliches. Aber diese Menschen handeln nicht uneigennützig. Sie investieren in die Gesellschaft, mit allen Unsicherheiten, die Investitionen mit sich bringen, und mit gebotener Vorsicht. Soziale Unterstützung wird nicht vorbehaltlos gewährt [5]. Und wenn die Investitionen zu unsicher sind, dann werden sie eben nicht getätigt. Die gesellschaftliche Debatte dreht sich maßgeblich um den „Sinn“ (also die ungewisse Vorteilhaftigkeit) von Beiträgen zu den Gemeingütern und um die Appelle an andere, diese Investitionen gefälligst zu tätigen. Man könnte das als „sehr generalisierte Reziprozität“ bezeichnen, aber so funktioniert unsere soziale Semantik nicht. Die kategorisiert eher plakativ in Gut und Böse, nicht in unauffällig reziprok. Insofern können wir mit Altruismus als echter Selbstlosigkeit nicht viel anfangen – Altruismus ist gesellschaftlich fast so unerwünscht wie Egoismus. Die entscheidende politische Frage ist daher nicht: „Wie stärken wir altruistisches Verhalten?“, sondern: „Wie sorgen wir dafür, dass reziproke Erwartungen nicht enttäuscht werden?“ Marktwirtschaft ist grundsätzlich ein strikt reziprokes Unterfangen, und es fehlt ihr nicht an Empathie, intrinsischer Motivation oder „sozialer Einbettung“ (Polanyi), sondern an wenigen, klar benennbaren Institutionen, die leistungslose Einkommen (Reziprozitätsverletzungen) verhindern oder abschöpfen, sowie an einem Geldsystem, in dem Geld seine Rolle als Kommunikationsmittel über den Wert von Leistungen gut erfüllen kann [6]. [1] West, Stuart A., Ashleigh S. Griffin, and Andy Gardner (2007). „Social Semantics: Altruism, Cooperation, Mutualism, Strong Reciprocity and Group Selection“.
In: Journal of Evolutionary Biology 20.2, pp. 415–432. |
März 2020 |
Aus einer E-Mail an einen Leser von „Marktwirtschaft reparieren“, der fragte, was für mich die entscheidenden Merkmale des „Kapitalismus“ in unserer heutigen Marktwirtschaft seien: Tatsächlich sind „Kapitalismus“ und andere starke Konzepte als Begriffe immer schon umstritten gewesen. „Schon in den 1920er Jahren sammelte der Soziologe Werner Sombart 260 Definitionen von Sozialismus.“ (dt. Wikipedia, „Sozialismus“). Tiefere Ursache ist meines Erachtens, dass diese Begriffe nicht in erster Linie wissenschaftlich, sondern argumentationsstrategisch eingesetzt werden. Durch „Hin- und Herschieben“ der Begriffe in die eine oder andere Richtung sollen sie positiv besetzt oder diffamiert werden, je nach Intention der Schiebenden. Auf Seite 19 in unserem Buch (Fußnote 3) weisen wir explizit darauf hin. Das macht „exakte“ Definitionen völlig unmöglich (Gleiches gilt übrigens auch für viele andere sozialwissenschaftliche Begriffe: Rationalität, Nutzen, Egoismus/Altruismus etc. Schauen Sie mal in die entsprechenden Wikipedia-Artikel - das reine Elend). Wenn Sie mich nach einer expliziten Definition von Kapitalismus fragen, so müsste ich zunächst mit einer Definition von Marktwirtschaft beginnen: Marktwirtschaft ist gekennzeichnet durch die dezentrale ökonomische Organisation einer Gesellschaft, die über Preise und die Mechanismen von Angebot und Nachfrage indirekt über den Wert von Leistungen kommuniziert und dadurch „steuert“, welche Menschen welche Leistungen erbringen sollen, die dann in ihrer Gesamtheit den Wohlstand der Gesellschaft ausmachen. Wichtigste Voraussetzung ist Geld (also eine stabile Währung). Das Leistungsprinzip ist konstitutiv für die Institution des Eigentums, also den Schutz der selbstgeschaffenen Leistungen vor dem Zugriff anderer. Privateigentum (an Produktionsmitteln oder anderen Gütern) ist daher für mich kein Kennzeichen von Kapitalismus (im Gegensatz zu vielen gängigen Definitionen). Kapitalismus ist dann ein grundsätzlich marktwirtschaftliches System, welches aber durch eine mangelhafte politische Rahmenordnung in wichtigen Punkten „aus dem Ruder läuft“. Systematisch geht es immer um leistungslose Einkommen (vgl. auch S. 46/47 im Buch), praktisch lassen sich drei konkrete Phänomene unterscheiden, die für mich Kapitalismus ausmachen:
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Oktober 2019 |
Aus einer E-Mail an die ZEIT-Redakteurin Lisa Nienhaus, welche ein Interview mit dem Schweizer Ökonomen Mathias Binswanger geführt hat („Weniger Wachstum ist eine Chance“, ZEIT No. 40/2019). Mathias Binswanger ist bekannt für seine Theoriebeiträge zur Wachstumszwang-Debatte, er hat im Frühjahr 2019 ein Buch dazu veröffentlicht. Die im folgenden aufgeführten Zitate von Mathias Binswanger sind dem Interview entnommen: Nun gibt es zwei Gewinnbegriffe, die parallel verwendet werden, einen buchhalterischen und einen ökonomischen, die sich in einem wesentlichen Punkt unterscheiden (siehe z. B. Gregory Mankiew: „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“, Kap. 14): Buchhalterisch spricht man von Gewinn, wenn die expliziten Erlöse die expliziten Kosten übersteigen. Das ist der Gewinn, den man durch eine Gewinn- und Verlustrechnung ganz objektiv ermitteln kann, er wird anschließend durch die Privatentnahmen der Unternehmenseigner (Gewinnausschüttung) reduziert. Wenn dann noch etwas übrig bleibt, was in der Firma verbleiben und investiert werden kann, nennt man diesen Rest buchhalterisch eine Gewinnrücklage, wirtschaftswissenschaftlich ökonomischen Gewinn, und er ist gleichbedeutend mit (bilanziellem) Unternehmenswachstum. Die Buchhalter haben vor allem die steuerlichen Vorschriften im Blick, während die Ökonomen die Sache vor allem inhaltlich betrachten („Lohnt sich das?“). Oder anders gesagt: Für die Buchhalter sind die Lebenshaltungskosten (schraffiert) aus dem Gewinn zu bestreiten (grün), für die Ökonomen gehören sie zu den Kosten (rot). Eine Firma ist aus buchhalterischer Sicht „profitabel“, wenn sie durchschnittlich ist, aus ökonomischer Sicht erst, wenn sie überdurchschnittlich ist: Mit einer unzulässigen (oder geschickten) Vermischung dieser Gewinnbegriffe konstruiert nun Mathias Binswanger seinen Wachstumszwang: „Denn nur solange es Wachstum gibt, ist eine Mehrheit der Unternehmen in der Lage, Gewinne zu erzielen.“ Mit diesem Satz bezieht er sich auf den ökonomischen Gewinn („grow or die“), denn für buchhalterischen Gewinn muss eine Firma nicht wachsen – sie muss nur profitabel sein („profit or die“). Eine Firma muss sogar nicht einmal buchhalterischen Gewinn machen, wenn sie ihren geschäftsführenden Gesellschaftern Gehälter und Provisionen zahlt (also Kosten) – gewissermaßen eine vorgezogene Gewinnausschüttung, und das gilt für eine überwältigende Mehrheit kleiner und mittlerer Unternehmen (inklusive Freiberufler). Sie wachsen nicht, ernähren aber ihre Inhaber und Angestellten („income or die“). Kurz darauf sagt Mathias Binswanger: „Wer keine Gewinne macht, verschwindet bald vom Markt oder wird aufgekauft.“ Damit bezieht er sich auf den buchhalterischen Gewinn. Ein Unternehmen ist profitabel und kann ewig am Markt bestehen bleiben, solange es seine Leute ernähren kann. Dazu ist lediglich buchhalterischer Gewinn erforderlich, der mehr oder weniger vollständig entnommen wird (ob als Privatentnahme oder Gehalt, ist völlig egal). Aus dieser „Differenz“ der beiden Gewinnbegriffe entsteht dann sein Wachstumszwang. Gewinn ist unverzichtbar (2. Zitat), aber nur mit Wachstum möglich (1. Zitat). |
Oktober 2017 |
Aus einer E-Mail an Mitglieder des ZOE – Institut für zukunftsfähige Ökonomien, aus Anlass meiner Bewerbung als Assoziierter an diesem Institut (siehe unten). ZOE ist dem Netzwerk Plurale Ökonomik verbunden, und die Befürwortung eines Theorien-Pluralismus ist Teil seiner wissenschaftlichen DNA. Insofern führte die Bewerbung eines erklärten „Theorie-Monisten“ zu kritischen Rückfragen. Meine Antwort darauf: Ich nehme wahr, dass in der Debatte mehrere Pluralismus-Konzeptionen parallel verwendet (und vermischt) werden und skizziere hier mal, wie ich diese Konzeptionen wahrnehme und einordne (auf die Gefahr, dass ich dabei bereits Missverständnissen unterliege, weise ich ausdrücklich hin – Korrekturen erwünscht):
Tatsächlich habe ich erst kürzlich bei Marvin Harris (US-amerikanischer Kulturanthropologe, 1927-2001) die bislang klarste Ausformulierung von Punkt 1 gefunden und seine Anwendung auf die Kulturanthropologie (Cultural Materialism). Harris ist meines Erachtens ein exzellenter Wissenschaftstheoretiker. Er ist in seiner Zunft als arrogant verschrien ... Ich hoffe, dass dies Eure Fragen beantwortet. Und meine Theoriearbeit wird damit auch noch einmal deutlicher: Ich beackere nicht nur Punkt 1, sondern versuche gleichzeitig, mit Hilfe der modernen Sozialpsychologie (Jonathan Haidt, Gerd Gigerenzer) herauszuarbeiten, auf welchen Selbstbindungen (Haltungen, Moralvorstellungen) Punkt 2 und Punkt 3 beruhen – Selbstbindungen, die nachvollziehbar sind, aber nicht immer funktional. |
Oktober 2017 |
In meiner Bewerbung als assoziiertes Mitglied von ZOE – Institut für zukunftsfähige Ökonomien gab es eine relativ knappe und vielleicht besser zugängliche Zusammenfassung meines privaten Forschungsprojektes: Mein Fernziel ist es, eine einigermaßen umfassende (eher breite als tiefe) Anthropologie des ökonomischen und politischen Prozesses zu entwickeln. Dieses Projekt beinhaltet einerseits ein Erklärungsmodell, warum Menschen Ökonomie so organisieren, wie sie sie organisieren, und andererseits ein Erklärungsmodell, warum der Prozess der politischen und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung (der sich prominent um ökonomische Fragen dreht) seine charakteristischen Formen annimmt. Ökonomie Politik Analyse
Die vielen Anführungsstriche weisen bereits darauf hin, dass es vor allem ein Streit um Begriffe ist. Meine Aufgabe sehe ich darin, diese Begriffe sorgfältig zu definieren, ihre „eigentliche“ (individuell wie gesellschaftlich funktionale) Grundlage sozialwissenschaftlich zu rekonstruieren und sie konsistent zueinander in Beziehung zu setzen. Da Begriffe seit jeher vor allem auch strategisch eingesetzt werden (Argumentationstheorie), ist dies eine Aufgabe von geradezu herkulischem Umfang – von daher auch die Notwendigkeit, ein sozialwissenschaftlicher Generalist zu sein (bzw. zu werden). Auch hier lohnt sich der Schritt auf die Meta-Ebene: Warum sind naturalistische und ökonomische Begründungen von Verhalten eigentlich so umstritten (Argumentationspole „Natur ~ Kultur“ sowie „System ~ Individuum“)? Welche sinnvolle soziale Funktion erfüllt die wissenschaftlich wenig zielführende Forderung nach „Theorien-Pluralismus“? Was steckt hinter der über einhundert Jahre alten „Erklären-Verstehen-Kontroverse“ in den Sozialwissenschaften? |
April 2017 |
Aus der E-Mail an einen Menschen, der an der öffentlichen Debatte verzweifelt: Ich würde an dieser Stelle noch etwas anderes ergänzen wollen: Die Auseinandersetzungen über die ökonomische Theorie, das Geldsystem, das BIP etc. gibt es schon seit langem. Man kann an diesen endlosen Debatten verzweifeln, wenn man sieht, wie parallel dazu alles immer mehr den Bach hinuntergeht (und das höre ich auch bei Ihnen heraus: „mir ist nicht verständlich ...“ – geht mir ja genauso). An dieser Stelle sind forschungsstrategisch (wenigstens) zwei Fragestellungen möglich:
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März 2017 |
Zu meinem Blogeintrag Die theoretische Einseitigkeit der Wachstumskritik hat es einen Kommentar gegeben, auf den ich noch mal geantwortet habe. Hier die deutsche Übersetzung dieser Antwort. Mit „Autoren“ meine ich die verschiedenen Theoretiker (beider Seiten), die ich in meinem Blogbeitrag erwähnt habe: Ich bin davon überzeugt, dass all diese Autoren, egal ob sie wachstumskritisch oder neoklassisch oder was auch immer sind, gute Punkte ansprechen. Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass sich all diese Leute nur graduell uneinig sind, nicht fundamental (auch wenn es oft danach aussieht). Mit einer „aristotelischen“ Sicht würde ich behaupten, dass sie alle nach dem „rechten Maß zwischen den Extremen“ suchen. Sicherlich überreagieren einige auf kapitalistische oder kommunistische Exzesse, aber alles in allem suchen sie nach Wahrheit und so etwas wie einer gerechten Welt (Leute wie Carl Schmitt vielleicht mal außen vor gelassen). Ich versuche nun, diese verschiedenen Perspektiven in EIN kohärentes Bild zu verdichten. Das bedeutet nicht, einzelne passende Gedanken wie Rosinen aus ihrem Kontext herauszupicken, sondern den jeweiligen Ansatz zu würdigen und seine grundlegenden Ideen korrekt herauszuarbeiten. Die meisten dieser Autoren machen irgendwo Fehler, aber oft sind diese Fehler „sozial intelligent“. Auf der Grundlage der zusammenfassenden Arbeiten von Jonathan Haidt und Gerd Gigerenzer zu Intuitionen versuche ich gewissermaßen, die sozialen Intuitionen hinter Kapitalismus, Kommunismus und all den anderen -ismen zu verstehen. Soziobiologie ist wertvoll, weil wir unsere biologischen Wurzeln nicht einfach abschütteln können. Rational-Choice ist wertvoll, weil Menschen mehr oder weniger ökonomische Rationalisten sind. Aber wenn es politisch wird, dann sind Menschen viel eher soziale Konstruktivisten, und die meisten hitzigen wissenschaftlichen Debatten drehen sich tatsächlich um Moral. Rationalität, Nutzen, Eliten, Macht usw. sind moralische Begriffe: Es geht nicht nur darum, was Rationalität ist, sondern auch darum, was als guter Grund gelten soll. Es geht nicht nur darum, was Macht ist, sondern auch darum, wer sie ausüben soll. Aber der Streit um all dies wird (zwangsläufig!) als rationale Debatte geführt, was die Regalmeter an wissenschaftlicher Literatur erklärt. Was die Wachstumskritik angeht, so sind die meisten ihrer Aktivisten ökonomische Konstruktivisten, und sie machen den grundlegenden Fehler, völlig zu vernachlässigen, dass die Ökonomie mehr oder weniger rational abläuft (von ein paar kleinen Irrationalitäten einmal abgesehen). |