ANDREAS SIEMONEIT

Gedankenblöcke

Eine konstant wiederkehrende Erfahrung in meiner Forschungsarbeit und bei meinen Verbreitungsversuchen ist Unverständnis, Skepsis, Widerstand. Insofern ist alles wichtig, was einem besseren Verständnis dienen kann, und manchmal sind eher spontan geschriebene Texte dafür besser geeignet. Hier auf dieser Seite habe ich „Gedankenblöcke“ abgelegt, welche bestimmte Aspekte erläutern, die (bisher) keinen besseren Ort gefunden haben, insbesondere auch nicht ins relativ knappe Manifesto passen.

Juli 2020

Aus einer E-Mail an den Deutschlandfunk, als Leserbrief zu „Essay und Diskurs: Der Mensch in Zeiten der Katastrophe“ von Andreas von Westfalen (19.07.2020):

Die Einteilung menschlichen Verhaltens nur in egoistisch und altruistisch lässt wenig Raum für jenes Verhalten, welches den überwältigenden Anteil aller Interaktion ausmacht, nämlich reziprok. Hier herrscht allerdings eine ziemliche Sprachverwirrung. Ich habe das mal in einer Grafik veranschaulicht. Soziobiologen und Sozialwissenschaftler (im engeren Sinne) leben hier buchstäblich in verschiedenen Begriffswelten (Ökonomen lassen sich in dieser Frage nicht eindeutig einer dieser beiden Gruppen zuordnen ...).

Eigentlich ist Altruismus ein Verhalten, welches anderen auf eigene Kosten einen Nutzen bringt (Nutzen und Kosten in einem breiten Sinne). Egoismus auf der anderen Seite ist ein Verhalten, welches einem selbst Nutzen auf Kosten anderer bringt. Es gibt aber auch sehr viel (eigentlich überwiegend) soziales Verhalten, welches beiden Seiten per Saldo Vorteile bringt: Mutualismus, Tausch, Kooperation. Das ist möglich, wenn der Nutzenzuwachs für die beiden Partner jeweils eine andere Kostenstruktur hat. Anschaulich: Wenn ich Schuhe herstelle und jemand anders Geflügel züchtet, dann können wir uns durch Tausch beide besser stellen, weil mich weitere Schuhe wesentlich weniger kosten als Geflügel selbst zu züchten und ich einen Geflügelmangel habe, und umgekehrt (beiderseits höherer Grenznutzen, geringere Grenzkosten). Gütertausch ist eine der einfachsten Formen reziproken Verhaltens: Vorteile für beide durch sozialen Tausch.

Die Soziobiologie befasst sich (im wesentlichen retrospektiv) mit der Entstehung und evolutionären Stabilisierung von Sozialverhalten bei allen Arten. Da über den größten Teil der Entwicklung hinweg kulturelle Evolution weder beim Menschen noch bei anderen Arten eine wesentliche Rolle spielte, konnten Verhaltensänderungen lange Zeit fast nur genetisch weitergegeben werden. Genselektion war also der entscheidende Mechanismus, und hier hat Altruismus einfach keine Chance. Altruistisches Verhalten in diesem engen Sinne (eigentlich: eine Form von Selbstaufgabe) wurde aussortiert. Egoistisches Verhalten hingegen ist weit verbreitet, weil es (wen wundert’s) viele Vorteile bietet – vorausgesetzt, es bleibt unbemerkt und wird nicht sanktioniert (Trittbrettfahrerproblem 1. und 2. Ordnung).
Die Soziobiologie wertet diese Begriffe nicht, daher sind sie hier grau hinterlegt. Auch innerhalb der Soziobiologie gab und gibt es Begriffsverwirrungen, beispielsweise Trivers' reciprocal altruism. Vor 13 Jahren fand eine erhellende Debatte innerhalb der Zunft statt [„social semantics“, 1-3], kürzlich gab es einen guten Übersichtsartikel dazu [4].

Begriffe in der Soziobiologie

Die Sozialwissenschaften hingegen betrachten Verhalten bereits dann als altruistisch, wenn jemand einem anderen Nutzen verschafft, ohne dabei offensichtlich auf seinen Vorteil zu schauen, und sie sind damit gut anschlussfähig an die sprachliche Nutzung im Alltag. Egoistisch ist Verhalten bereits dann, wenn eigene Vorteile bewusst in Betracht gezogen werden. Ob das auf Kosten anderer passiert (eigentlich die Definition von Egoismus) oder nicht, ist dann bereits egal. In dieser Definition sind normaler marktwirtschaftlicher Tausch, Arbeit gegen Einkommen, gegenseitige Hilfe etc. „egoistisch“, und jeder Beitrag zum Gemeinwohl ist „altruistisch“.
Sowohl im Alltag als auch in den Sozialwissenschaften findet implizit oder explizit eine Wertung solchen Verhaltens statt: Altruismus ist gut, und wir brauchen mehr davon, Egoismus ist schlecht. Deshalb diese ganze Betonung der Notwendigkeit von intrinsischer Motivation, Verzicht auf „kühle Kalkulation“, die zwiespältige Rolle von Bewusstsein und der schlechte Ruf von „Anreizen“. Für Reziprozität bleibt dann (wenn überhaupt) kaum noch Raum – eine völlig verfehlte Ausweitung der Begriffe, die sich leider auch einige Ökonomen zueigen gemacht haben. In diese Kategorie fallen viele der in der Sendung zitierten Arbeiten zu „Altruismus“ (Tomasello, Fehr etc.).

Begriffe im Alltag und den Sozialwissenschaften

Warum dieser ganze Streit um Begriffe? Weil sehr viele Menschen (auch in den Wissenschaften) sich sehr viel von dem Nachweis versprechen, dass Altruismus, intrinsische Motivation, Gemeinwohlorientierung zum „Wesen des Menschen“ gehören, dass es genuine Gruppenselektion gibt (siehe [3]). Man erhofft sich von dieser naturalistischen Begründung eine bessere Argumentationsposition gegenüber dem Neoliberalismus, dem Kapitalismus, den Mainstream-Ökonomen, der sozialen Kälte der FDP etc.

Aber wenn es ein „Wesen des Menschen“ gibt, dann ist es am ehesten reziprok. Niemand verteilt Geldscheine im Bus (das wäre „echter“ Altruismus), sondern Menschen handeln „altruistisch“, wenn sie sich davon Vorteile versprechen. Nur spricht man dann nicht von „Vorteilen“ (die sich in der Regel weder benennen noch objektivieren lassen), sondern eher davon, „etwas Sinnvolles zu tun“, „anderen Gutes zu tun“, „sich zu engagieren“ oder ähnliches. Aber diese Menschen handeln nicht uneigennützig. Sie investieren in die Gesellschaft, mit allen Unsicherheiten, die Investitionen mit sich bringen, und mit gebotener Vorsicht. Soziale Unterstützung wird nicht vorbehaltlos gewährt [5]. Und wenn die Investitionen zu unsicher sind, dann werden sie eben nicht getätigt. Die gesellschaftliche Debatte dreht sich maßgeblich um den „Sinn“ (also die ungewisse Vorteilhaftigkeit) von Beiträgen zu den Gemeingütern und um die Appelle an andere, diese Investitionen gefälligst zu tätigen. Man könnte das als „sehr generalisierte Reziprozität“ bezeichnen, aber so funktioniert unsere soziale Semantik nicht. Die kategorisiert eher plakativ in Gut und Böse, nicht in unauffällig reziprok. Insofern können wir mit Altruismus als echter Selbstlosigkeit nicht viel anfangen – Altruismus ist gesellschaftlich fast so unerwünscht wie Egoismus.

Begriffe sinnvoll definiert

Die entscheidende politische Frage ist daher nicht: „Wie stärken wir altruistisches Verhalten?“, sondern: „Wie sorgen wir dafür, dass reziproke Erwartungen nicht enttäuscht werden?“ Marktwirtschaft ist grundsätzlich ein strikt reziprokes Unterfangen, und es fehlt ihr nicht an Empathie, intrinsischer Motivation oder „sozialer Einbettung“ (Polanyi), sondern an wenigen, klar benennbaren Institutionen, die leistungslose Einkommen (Reziprozitätsverletzungen) verhindern oder abschöpfen, sowie an einem Geldsystem, in dem Geld seine Rolle als Kommunikationsmittel über den Wert von Leistungen gut erfüllen kann [6].

[1] West, Stuart A., Ashleigh S. Griffin, and Andy Gardner (2007). „Social Semantics: Altruism, Cooperation, Mutualism, Strong Reciprocity and Group Selection“. In: Journal of Evolutionary Biology 20.2, pp. 415–432.
[2] Wilson, David Sloan (2008). „Social semantics: toward a genuine pluralism in the study of social behaviour“. In: Journal of Evolutionary Biology 21.1, pp. 368–373.
[3] West, Stuart A., Ashleigh S. Griffin, and Andy Gardner (2008). „Social semantics: how useful has group selection been?“ In: Journal of Evolutionary Biology 21.1, pp. 374–385.
[4] Kurzban, Robert, Maxwell N. Burton-Chellew, and Stuart A. West (2015). „The Evolution of Altruism in Humans“. In: Annual Review of Psychology 66.1, pp. 575–599.
[5] Oorschot, Wim van and Femke Roosma (2017). „The Social Legitimacy of Targeted Welfare and Welfare Deservingness“. In: The Social Legitimacy of Targeted Welfare: Attitudes to Welfare Deservingness. Ed. by Wim van Oorschot et al. Cheltenham, UK: Edward Elgar Publishing, pp. 3–34.
[6] Richters, Oliver and Andreas Siemoneit (2019). Marktwirtschaft reparieren: Entwurf einer freiheitlichen, gerechten und nachhaltigen Utopie. München: oekom.

März 2020

Aus einer E-Mail an einen Leser von „Marktwirtschaft reparieren“, der fragte, was für mich die entscheidenden Merkmale des „Kapitalismus“ in unserer heutigen Marktwirtschaft seien:

Tatsächlich sind „Kapitalismus“ und andere starke Konzepte als Begriffe immer schon umstritten gewesen. „Schon in den 1920er Jahren sammelte der Soziologe Werner Sombart 260 Definitionen von Sozialismus.“ (dt. Wikipedia, „Sozialismus“). Tiefere Ursache ist meines Erachtens, dass diese Begriffe nicht in erster Linie wissenschaftlich, sondern argumentationsstrategisch eingesetzt werden. Durch „Hin- und Herschieben“ der Begriffe in die eine oder andere Richtung sollen sie positiv besetzt oder diffamiert werden, je nach Intention der Schiebenden. Auf Seite 19 in unserem Buch (Fußnote 3) weisen wir explizit darauf hin. Das macht „exakte“ Definitionen völlig unmöglich (Gleiches gilt übrigens auch für viele andere sozialwissenschaftliche Begriffe: Rationalität, Nutzen, Egoismus/Altruismus etc. Schauen Sie mal in die entsprechenden Wikipedia-Artikel - das reine Elend).

Wenn Sie mich nach einer expliziten Definition von Kapitalismus fragen, so müsste ich zunächst mit einer Definition von Marktwirtschaft beginnen: Marktwirtschaft ist gekennzeichnet durch die dezentrale ökonomische Organisation einer Gesellschaft, die über Preise und die Mechanismen von Angebot und Nachfrage indirekt über den Wert von Leistungen kommuniziert und dadurch „steuert“, welche Menschen welche Leistungen erbringen sollen, die dann in ihrer Gesamtheit den Wohlstand der Gesellschaft ausmachen. Wichtigste Voraussetzung ist Geld (also eine stabile Währung). Das Leistungsprinzip ist konstitutiv für die Institution des Eigentums, also den Schutz der selbstgeschaffenen Leistungen vor dem Zugriff anderer. Privateigentum (an Produktionsmitteln oder anderen Gütern) ist daher für mich kein Kennzeichen von Kapitalismus (im Gegensatz zu vielen gängigen Definitionen).

Kapitalismus ist dann ein grundsätzlich marktwirtschaftliches System, welches aber durch eine mangelhafte politische Rahmenordnung in wichtigen Punkten „aus dem Ruder läuft“. Systematisch geht es immer um leistungslose Einkommen (vgl. auch S. 46/47 im Buch), praktisch lassen sich drei konkrete Phänomene unterscheiden, die für mich Kapitalismus ausmachen:

  • Die Möglichkeit von Akkumulation, also die Bildung von sehr großen Vermögen oder von sehr großem Produktionskapital, als fehlende ökonomische Machtbegrenzung.
  • Die grundsätzliche Legitimität von offensichtlich leistungslosen Einkommen (z. B. Bodenrenten).
  • Private Geldschöpfung.

Oktober 2019

Aus einer E-Mail an die ZEIT-Redakteurin Lisa Nienhaus, welche ein Interview mit dem Schweizer Ökonomen Mathias Binswanger geführt hat („Weniger Wachstum ist eine Chance“, ZEIT No. 40/2019). Mathias Binswanger ist bekannt für seine Theoriebeiträge zur Wachstumszwang-Debatte, er hat im Frühjahr 2019 ein Buch dazu veröffentlicht. Die im folgenden aufgeführten Zitate von Mathias Binswanger sind dem Interview entnommen:

Nun gibt es zwei Gewinnbegriffe, die parallel verwendet werden, einen buchhalterischen und einen ökonomischen, die sich in einem wesentlichen Punkt unterscheiden (siehe z. B. Gregory Mankiew: „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“, Kap. 14): Buchhalterisch spricht man von Gewinn, wenn die expliziten Erlöse die expliziten Kosten übersteigen. Das ist der Gewinn, den man durch eine Gewinn- und Verlustrechnung ganz objektiv ermitteln kann, er wird anschließend durch die Privatentnahmen der Unternehmenseigner (Gewinnausschüttung) reduziert. Wenn dann noch etwas übrig bleibt, was in der Firma verbleiben und investiert werden kann, nennt man diesen Rest buchhalterisch eine Gewinnrücklage, wirtschaftswissenschaftlich ökonomischen Gewinn, und er ist gleichbedeutend mit (bilanziellem) Unternehmenswachstum. Die Buchhalter haben vor allem die steuerlichen Vorschriften im Blick, während die Ökonomen die Sache vor allem inhaltlich betrachten („Lohnt sich das?“). Oder anders gesagt: Für die Buchhalter sind die Lebenshaltungskosten (schraffiert) aus dem Gewinn zu bestreiten (grün), für die Ökonomen gehören sie zu den Kosten (rot). Eine Firma ist aus buchhalterischer Sicht „profitabel“, wenn sie durchschnittlich ist, aus ökonomischer Sicht erst, wenn sie überdurchschnittlich ist:

Gewinnbegriffe

Mit einer unzulässigen (oder geschickten) Vermischung dieser Gewinnbegriffe konstruiert nun Mathias Binswanger seinen Wachstumszwang: „Denn nur solange es Wachstum gibt, ist eine Mehrheit der Unternehmen in der Lage, Gewinne zu erzielen.“ Mit diesem Satz bezieht er sich auf den ökonomischen Gewinn („grow or die“), denn für buchhalterischen Gewinn muss eine Firma nicht wachsen – sie muss nur profitabel sein („profit or die“). Eine Firma muss sogar nicht einmal buchhalterischen Gewinn machen, wenn sie ihren geschäftsführenden Gesellschaftern Gehälter und Provisionen zahlt (also Kosten) – gewissermaßen eine vorgezogene Gewinnausschüttung, und das gilt für eine überwältigende Mehrheit kleiner und mittlerer Unternehmen (inklusive Freiberufler). Sie wachsen nicht, ernähren aber ihre Inhaber und Angestellten („income or die“).

Kurz darauf sagt Mathias Binswanger: „Wer keine Gewinne macht, verschwindet bald vom Markt oder wird aufgekauft.“ Damit bezieht er sich auf den buchhalterischen Gewinn. Ein Unternehmen ist profitabel und kann ewig am Markt bestehen bleiben, solange es seine Leute ernähren kann. Dazu ist lediglich buchhalterischer Gewinn erforderlich, der mehr oder weniger vollständig entnommen wird (ob als Privatentnahme oder Gehalt, ist völlig egal). Aus dieser „Differenz“ der beiden Gewinnbegriffe entsteht dann sein Wachstumszwang. Gewinn ist unverzichtbar (2. Zitat), aber nur mit Wachstum möglich (1. Zitat).

Oktober 2017

Aus einer E-Mail an Mitglieder des ZOE – Institut für zukunftsfähige Ökonomien, aus Anlass meiner Bewerbung als Assoziierter an diesem Institut (siehe unten). ZOE ist dem Netzwerk Plurale Ökonomik verbunden, und die Befürwortung eines Theorien-Pluralismus ist Teil seiner wissenschaftlichen DNA. Insofern führte die Bewerbung eines erklärten „Theorie-Monisten“ zu kritischen Rückfragen. Meine Antwort darauf:

Ich nehme wahr, dass in der Debatte mehrere Pluralismus-Konzeptionen parallel verwendet (und vermischt) werden und skizziere hier mal, wie ich diese Konzeptionen wahrnehme und einordne (auf die Gefahr, dass ich dabei bereits Missverständnissen unterliege, weise ich ausdrücklich hin – Korrekturen erwünscht):

  1. Theorien-Pluralismus im erkenntnistheoretischen Sinne
    „Gesellschaft stellt ein komplexes Zusammenspiel von individuellen Handlungen und strukturellen Gegebenheiten dar, die sich wechselseitig bedingen und reproduzieren oder wandeln. Es ist wissenschaftlich vermessen, dieses komplexe System mit nur einem Theorieansatz beschreiben zu wollen, weil jeder Ansatz immer auch eine Reduktion auf einen Satz Grundannahmen darstellt. Daher stellt jede Theorie eine Perspektive dar, und eine Perspektive kann nicht falsch, sondern bestenfalls ungünstig sein.“
    Ich verstehe (und wertschätze, siehe Punkt 3) diesen Ansatz, halte ihn aber epistemologisch für falsch (wenn auch als Teil des Suchprozesses hilfreich, siehe Punkt 2). Für mich haben sozialwissenschaftliche Theorien nicht allein schon deshalb einen anderen epistemologischen Status als naturwissenschaftliche Theorien, weil menschliches Verhalten bunt und schwierig zu erklären ist. Ich bin überzeugt davon, dass man Verhalten tatsächlich nicht nur verstehen, sondern auch erklären kann (vgl. die Verstehen-Erklären-Kontroverse). Eigentlich ist soziales Verhalten dort, wo es politisch relevant ist (!), nicht besonders bunt, sondern folgt ziemlich einfachen Regeln (hier folge ich der Soziobiologie und der neoklassischen Ökonomik). Insofern glaube ich fest an die Möglichkeit, eine Sozialtheorie zu entwickeln, die aus EINER Perspektive heraus die wesentlichen Aspekte gesellschaftlich relevanten Verhaltens im wesentlichen erklärt. Ein Pareto-Ansatz, wenn Du so willst: Mit 20 % Theorie 80 % Verhalten erklären. Auf (historische) Einzelfälle bezogen, kann ein Theorien-Pluralismus im Sinne von Perspektiven sinnvoll sein, aber eine Theorie muss nicht alle Einzelfälle erklären: Sie soll die Regelmäßigkeiten (Muster) plausibel machen, gewissermaßen den Schwerpunkt der Verteilung.
  2. Theorien-Pluralismus als Teil eines wissenschaftlichen Suchprozesses
    „In der Ökonomik hat sich die Neoklassik als Monokultur breitgemacht und marginalisiert recht selbstgefällig andere Ansätze. Das ist um so unverständlicher, als dass ihr mittlerweile viele schwere konzeptionelle Fehler nachgewiesen wurden, sie viele ökonomische Phänomene nur unzureichend erklären kann und andere Ansätze ihre Produktivität unter Beweis gestellt haben. Es ist daher unbedingt erforderlich, die neoklassische Einseitigkeit aufzubrechen und andere theoretische Ansätze in der Ökonomik zu fördern.“
    Kann ich 1:1 unterschreiben. Solange wir keine gute Theorie haben (siehe erster Punkt), müssen wir weitersuchen, und ideologische Scheuklappen sind dabei nur hinderlich (wobei ich auch viele ideologische Festlegungen bei den Kritiker_innen der Neoklassik sehe). Daraus aber ein epistemologisches Konzept zu machen, halte ich für falsch (und betrachte es eher als empörte Gegenreaktion auf die Bräsigkeit der Neoklassik). Für mich ist die Neoklassik (wie auch das Konzept der Marktwirtschaft) eher eine soziale Utopie, die es zu realisieren gilt, als eine gute theoretische Beschreibung des Kapitalismus. Es ist meines Erachtens der Fehler „alternativer Ansätze“ (Post-Keynesianismus, Marxismus etc.), zu reklamieren, den Kapitalismus besser beschreiben zu können. Wir brauchen keine besseren Beschreibungen des Kapitalismus, sondern eine Politik, die ihn überwindet. Dafür ist es erforderlich, die Utopien Neoklassik und Marktwirtschaft auszuleuchten, auf welchen universellen Gerechtigkeitsprinzipien (Reziprozität) sie beruhen, und daraus neue soziale Institutionen abzuleiten.
  3. Theorien-Pluralismus als Debattenkultur
    „Wer eine lebhafte Theoriedebatte haben möchte, darf den Kreis der Diskutand_innen nicht von vornherein beschränken, sondern muss ihn für möglichst viele öffnen. Jeder Beitrag ist wertvoll, weil jede_r eine andere Perspektive beisteuern kann. Deshalb sind diskursive Hierarchien abzubauen.“
    Zwiespältig. Diese Haltung ist einerseits sozial sinnvoll (und darauf bezog sich auch die „sinnvolle soziale Funktion“ in meiner Bewerbung sowie die Wertschätzung oben), weil man unterm Strich schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht hat, welche glauben, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben und einen Alleinvertretungsanspruch reklamieren. Arroganz ist keine gute wissenschaftliche Haltung.
    Es gibt allerdings zwei Caveats:
    1. Ein Alleinvertretungsanspruch ist nicht per se abzulehnen. Wenn man (wie ich) davon ausgeht, dass jede Theorie auf Konsistenz abzielt (siehe erster Punkt), landet man am Ende ohnehin dort. Es ist furchtbar einfach, solchen Menschen Arroganz vorzuwerfen. Einem Erklärungsanspruch kann man immer Arroganz vorwerfen. Aber die Richtigkeit oder Falschheit einer sozialwissenschaftlichen Theorie hängt nicht von ihrem Zustimmungsgrad ab. Sie ist entweder falsch oder richtig. Das ist eine empirisch zu beantwortende Frage (wobei sich die Antwort möglicherweise erst nach 150 Jahren ergibt).
    2. Es gibt nachweislich Cranks, Bedenkenträger (VÖÖ ...) und (junge) Menschen, die noch am Anfang ihres wissenschaftlichen Suchprozesses stehen, mitunter ein Faible für extreme Positionen haben (eindrückliche Erfahrungen meinerseits bei der Plural@-Klausur 2015 im Dürerhof). Solche Menschen können die Arbeit anderer, die sich auf den wissenschaftlichen Suchweg begeben haben, substantiell behindern. Insofern ist es meines Erachtens nicht nur vertretbar, sondern unabdingbar, Kreise zu beschränken – schöner, wenn das nicht durch offene Ausladungen erfolgen muss, sondern eher durch Nicht-Einladung. Man muss nicht mit allen zusammenarbeiten, sondern nur mit jenen, die produktiv sind. Manchmal aber ist ein hartes, offenes Wort unvermeidbar, wenn elementare wissenschaftliche Standards verletzt werden (Oli weiß, an wen ich denke).

Tatsächlich habe ich erst kürzlich bei Marvin Harris (US-amerikanischer Kulturanthropologe, 1927-2001) die bislang klarste Ausformulierung von Punkt 1 gefunden und seine Anwendung auf die Kulturanthropologie (Cultural Materialism). Harris ist meines Erachtens ein exzellenter Wissenschaftstheoretiker. Er ist in seiner Zunft als arrogant verschrien ...

Ich hoffe, dass dies Eure Fragen beantwortet. Und meine Theoriearbeit wird damit auch noch einmal deutlicher: Ich beackere nicht nur Punkt 1, sondern versuche gleichzeitig, mit Hilfe der modernen Sozialpsychologie (Jonathan Haidt, Gerd Gigerenzer) herauszuarbeiten, auf welchen Selbstbindungen (Haltungen, Moralvorstellungen) Punkt 2 und Punkt 3 beruhen – Selbstbindungen, die nachvollziehbar sind, aber nicht immer funktional.

Oktober 2017

In meiner Bewerbung als assoziiertes Mitglied von ZOE – Institut für zukunftsfähige Ökonomien gab es eine relativ knappe und vielleicht besser zugängliche Zusammenfassung meines privaten Forschungsprojektes:

Mein Fernziel ist es, eine einigermaßen umfassende (eher breite als tiefe) Anthropologie des ökonomischen und politischen Prozesses zu entwickeln. Dieses Projekt beinhaltet einerseits ein Erklärungsmodell, warum Menschen Ökonomie so organisieren, wie sie sie organisieren, und andererseits ein Erklärungsmodell, warum der Prozess der politischen und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung (der sich prominent um ökonomische Fragen dreht) seine charakteristischen Formen annimmt.

Ökonomie
Ich gehe davon aus, dass es kulturinvariant evolvierte menschliche Eigenschaften gibt, welche den Rahmen einer gerechten Gesellschaft ziemlich eng abstecken, insbesondere Reziprozität und damit das sogenannte Leistungsprinzip (welches keine „Erfindung“ der Moderne ist). Die Annahme einer umfassenden gesellschaftlichen Gestaltbarkeit der ökonomischen Beziehungen ist meines Erachtens nicht haltbar. Das, was wir „Gerechtigkeitsempfinden“ nennen, lässt nicht sehr viel Gestaltungsspielraum zu, und Aufgabe ist es, diesen Gestaltungsspielraum präzise zu bestimmen und sachlich zu begründen. Dabei greife ich auf sorgfältig ausgewählte naturalistische Begründungen zurück.

Politik
Zum Bereich der politischen Auseinandersetzung zähle ich auch die Sozialwissenschaften: Fraktionenbildung und „unüberbrückbare Gegensätze“ sind kein Monopol von Politik im engeren Sinne, und meine These ist, dass die bekannten Grabenkämpfe der Sozialwissenschaften (Schulenbildung) ebenso wie ihre politischen Pendants letztlich moralisch begründet sind. Weil sich beide Felder jedoch einem rationalen Diskurs verpflichtet sehen, verbirgt sich diese moralische Grundierung buchstäblich hinter umfänglichen Rationalisierungen. Der Begriff der „Rationalität“ selbst ist hochpolitisch: Wer die Deutungshoheit darüber hat, was als „rational“ gilt, hat einen mächtigen Pflock eingeschlagen.

Analyse
Dahinter stehen meines Erachtens unterschiedliche Gesellschaftsmodelle, welche sich an ihren beiden Polen wie folgt charakterisieren lassen:

  • Ein „moralistisches“ Gesellschaftsmodell, welches sich historisch aus der menschlichen Evolution in kleinen Gruppen speist: Gesellschaften werden vor allem durch „gemeinsame Werte“ zusammengehalten. Moralische Interventionen sind vor allem persönlich. Sie sind an Einzelne gerichtete Akte von Lob und Missbilligung, wozu auch Kulturkritik gehört („unrichtige“ Wertesysteme, „schlechte“ Zustände und „falsches“ Verhalten).
    Aufgrund der tiefen Verankerung von moralischen Intuitionen in unserem genetischen System ist dies so etwas wie der „Default-Zustand des Menschen“ und bislang absolut prägend vor allem für den politischen Prozess, der formal rational, tatsächlich aber vor allem „bauchgesteuert“ ist.
  • Ein „institutionalistisches“ Gesellschaftsmodell, welches noch recht jung ist und auf die Entwicklung einer anonymen (Welt-)Gesellschaft reagiert, in welcher ethisch vertretbare Interaktionsformen entwickelt werden müssen, die unpersönlich sind (und damit nicht mehr „moralisch“ im klassischen Sinne). Diese „Institutionen“ funktionieren am besten, wenn sie auf wenigen, möglichst unstrittigen und rein sachbezogenen („objektiven“) Prämissen basieren. Der klassische Liberalismus war ein wichtiger Stichwortgeber für diese Entwicklung.
    Dank der Objektivierung des ökonomischen Prozesses durch die soziale Innovation Geld sind formale Institutionen dort bereits relativ verbreitet. Viele dieser Institutionen sind noch recht unvollkommen organisiert (Geld, Märkte, Steuersystem, Sozialversicherung, ...) und bedürfen der Verbesserung, deuten aber vielversprechende Entwicklungspfade an. Manche dieser Institutionen sind kontraintuitiv und daher umstritten.

Die vielen Anführungsstriche weisen bereits darauf hin, dass es vor allem ein Streit um Begriffe ist. Meine Aufgabe sehe ich darin, diese Begriffe sorgfältig zu definieren, ihre „eigentliche“ (individuell wie gesellschaftlich funktionale) Grundlage sozialwissenschaftlich zu rekonstruieren und sie konsistent zueinander in Beziehung zu setzen. Da Begriffe seit jeher vor allem auch strategisch eingesetzt werden (Argumentationstheorie), ist dies eine Aufgabe von geradezu herkulischem Umfang – von daher auch die Notwendigkeit, ein sozialwissenschaftlicher Generalist zu sein (bzw. zu werden).

Auch hier lohnt sich der Schritt auf die Meta-Ebene: Warum sind naturalistische und ökonomische Begründungen von Verhalten eigentlich so umstritten (Argumentationspole „Natur ~ Kultur“ sowie „System ~ Individuum“)? Welche sinnvolle soziale Funktion erfüllt die wissenschaftlich wenig zielführende Forderung nach „Theorien-Pluralismus“? Was steckt hinter der über einhundert Jahre alten „Erklären-Verstehen-Kontroverse“ in den Sozialwissenschaften?

April 2017

Aus der E-Mail an einen Menschen, der an der öffentlichen Debatte verzweifelt:

Ich würde an dieser Stelle noch etwas anderes ergänzen wollen: Die Auseinandersetzungen über die ökonomische Theorie, das Geldsystem, das BIP etc. gibt es schon seit langem. Man kann an diesen endlosen Debatten verzweifeln, wenn man sieht, wie parallel dazu alles immer mehr den Bach hinuntergeht (und das höre ich auch bei Ihnen heraus: „mir ist nicht verständlich ...“ – geht mir ja genauso). An dieser Stelle sind forschungsstrategisch (wenigstens) zwei Fragestellungen möglich:

  • Oliver und ich suchen nach einem WachstumsZWANG, der „kontraintuitiv“ ist und deshalb unauffällig. Geld und Zins, Konkurrenz, Geltungskonsum etc. sind alle schon breit diskutiert – eben WEIL sie auffällig sind. Wenn diese Diskussionen nichts gebracht haben, dann sind es möglicherweise die falschen Verdächtigen. Das hat zu unseren Artikeln geführt. Wir haben einen ökonomischen Zwang identifiziert, der uns Menschen sehr unauffällig „an einer schwachen Stelle“ packt, nämlich unserer einseitig positiven Bejahung von Fortschritt (alternativ: nicht so positiv bejaht, aber als unvermeidlich angesehen).
  • Ich fahre parallel noch eine andere Schiene: Wenn diese Auseinandersetzungen so fruchtlos sind, dann müssen wir herausbekommen, warum sie eigentlich in der Form geführt werden, in der sie geführt werden. Ich gehe sozusagen auf die Metaebene. Menschen verschwenden eigentlich ungern ihre Zeit. Wenn sie endlos über das Immergleiche debattieren und dabei nicht weiterkommen, dann ist das sozialwissenschaftlich ein „Forschungssignal“ ersten Ranges, und zwar nicht nur aus einer rein theoretischen Perspektive, sondern um herauszubekommen, wie man die Debatten anders gestalten könnte. Meine These ist, dass es die gleiche „Ursache“ haben könnte wie das, was Oliver und ich herausgefunden haben: Unsere Intuitionen spielen uns auch hier einen Streich. Es ist kein Zufall, dass so viel Kulturkritik unterwegs ist (äußern Sie und Rosa ja auch).
Intuitionen sind meines Erachtens der Schlüssel zum Beantworten beider Forschungsfragen.

März 2017

Zu meinem Blogeintrag Die theoretische Einseitigkeit der Wachstumskritik hat es einen Kommentar gegeben, auf den ich noch mal geantwortet habe. Hier die deutsche Übersetzung dieser Antwort. Mit „Autoren“ meine ich die verschiedenen Theoretiker (beider Seiten), die ich in meinem Blogbeitrag erwähnt habe:

Ich bin davon überzeugt, dass all diese Autoren, egal ob sie wachstumskritisch oder neoklassisch oder was auch immer sind, gute Punkte ansprechen. Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass sich all diese Leute nur graduell uneinig sind, nicht fundamental (auch wenn es oft danach aussieht). Mit einer „aristotelischen“ Sicht würde ich behaupten, dass sie alle nach dem „rechten Maß zwischen den Extremen“ suchen. Sicherlich überreagieren einige auf kapitalistische oder kommunistische Exzesse, aber alles in allem suchen sie nach Wahrheit und so etwas wie einer gerechten Welt (Leute wie Carl Schmitt vielleicht mal außen vor gelassen).

Ich versuche nun, diese verschiedenen Perspektiven in EIN kohärentes Bild zu verdichten. Das bedeutet nicht, einzelne passende Gedanken wie Rosinen aus ihrem Kontext herauszupicken, sondern den jeweiligen Ansatz zu würdigen und seine grundlegenden Ideen korrekt herauszuarbeiten. Die meisten dieser Autoren machen irgendwo Fehler, aber oft sind diese Fehler „sozial intelligent“. Auf der Grundlage der zusammenfassenden Arbeiten von Jonathan Haidt und Gerd Gigerenzer zu Intuitionen versuche ich gewissermaßen, die sozialen Intuitionen hinter Kapitalismus, Kommunismus und all den anderen -ismen zu verstehen. Soziobiologie ist wertvoll, weil wir unsere biologischen Wurzeln nicht einfach abschütteln können. Rational-Choice ist wertvoll, weil Menschen mehr oder weniger ökonomische Rationalisten sind. Aber wenn es politisch wird, dann sind Menschen viel eher soziale Konstruktivisten, und die meisten hitzigen wissenschaftlichen Debatten drehen sich tatsächlich um Moral. Rationalität, Nutzen, Eliten, Macht usw. sind moralische Begriffe: Es geht nicht nur darum, was Rationalität ist, sondern auch darum, was als guter Grund gelten soll. Es geht nicht nur darum, was Macht ist, sondern auch darum, wer sie ausüben soll. Aber der Streit um all dies wird (zwangsläufig!) als rationale Debatte geführt, was die Regalmeter an wissenschaftlicher Literatur erklärt.

Was die Wachstumskritik angeht, so sind die meisten ihrer Aktivisten ökonomische Konstruktivisten, und sie machen den grundlegenden Fehler, völlig zu vernachlässigen, dass die Ökonomie mehr oder weniger rational abläuft (von ein paar kleinen Irrationalitäten einmal abgesehen).