ANDREAS SIEMONEIT

Vergangenheitsbewältigung – ein Blick in die Zukunft

Zwischendurch kommt man immer wieder an den Punkt, wo man das Elend nur noch künstlerisch verarbeiten kann. Die folgenden Texte waren die Basis für ein kleines Kabarett, welches Oliver Richters und ich bei der Jahrestagung 2015 der Vereinigung für Ökologische Ökonomie aufgeführt haben. Als Vorlage dienten Texte, die ich im Web gefunden hatte. Verstörend war vor allem, wie wenig an diesen Texten geändert werden musste, damit sie wieder schlüssig waren. Und das ist meine Prognose: In 50 Jahren will es keiner gewesen sein. Alle werden sich schon immer gegen das Wachstum ausgesprochen haben. Man wird Haupttäter, Mitläufer und Widerstandskämpfer unterscheiden. Und so weiter.

Geschichte wiederholt sich nicht, und doch bleibt alles gleich.

Dunkle Stellen in der Familiengeschichte

Oft stellen sich die „Konsum-Enkel“ die Frage nach der Vergangenheit ihrer Großeltern während der Wachstumszeit (und was diese Vergangenheit für ihre eigene Identität bedeutet) erst, wenn sie erwachsen sind. Das kann heißen, dass die Großeltern schon nicht mehr am Leben sind und nicht mehr antworten können. Häufig sind die eigenen Eltern auf der Suche nach der Wahrheit keine große Hilfe, stießen doch die „Konsum-Kinder“ ihrerseits bereits auf Lügen, Abwehr, Ausreden und vor allem: Schweigen. In vielen Familien gelten solche Fragen nach der Wachstumszeit als „Nestbeschmutzung“. In manchen Familien wird das Problem verharmlost: „Immerhin haben die Wachstums-Befürworter die Autobahnen gebaut.“ Oder es wird geleugnet: „Glaubst Du, dass wir so weitergemacht hätten, wenn wir gewusst hätten, was das CO2 anrichtet? Wir haben der Politik geglaubt, dass die Klimaerwärmung für Deutschland eigentlich positiv sei und Weinbau und Tourismus fördern würde.“

Mit diesem Grundtenor „Das war damals halt so“ will sich die dritte Generation immer weniger abfinden. Sie beginnt mit Recherchen, wühlt in Archiven – und kann auf furchtbare Tatsachen stoßen: Dass der Großvater Manager war bei Amazon. Dass er als Mitglied der FDP dem Wachstum zum Aufstieg verholfen hat. Oder dass Oma ein überzeugter Wachsi war und davon in zahlreichen Schriftstücken Zeugnis abgelegt hat. Aber auch die Großeltern als Wachstums-Opfer sind bis heute häufig ein Tabu: Unbezahlte Praktika, Entlassungen und Lebenslanges Lernen werden totgeschwiegen.

Sogar heute noch treiben die Großeltern manchmal ihr Unwesen: Auf Kameradschaftstreffen werden die alten Lieder von der Konjunktur gesungen, FDP-Fahnen geschwungen und fossile Brennstoffe verfeuert. Bekannt wurden auch Fälle, wo die alten Wachstums-Ideologen dank bestehender Seilschaften in der neuen Gemeinwohlökonomie wieder ungehindert Karriere machen konnten oder vom amerikanischen Gemeinwohldienst als „fähige Fachleute“ angeworben wurden, auf die man „auch in der neuen Zeit“ nicht verzichten könne. Andere führende Wachstums-Ideologen sind unter falschem Namen in Schwellenländer geflohen und haben dort geholfen, neue Reboundeffekte aufzubauen.

Inspiration: Generation Kriegsenkel

Historiker-Kommission

Zuerst waren es die Aktiengesellschaften, nun folgen Familienunternehmen: Mit „Dr. Oetker“ hat ein weiteres deutsches Unternehmen seine Rolle in der Zeit des Wirtschaftswachstums aufgearbeitet. Was steckt hinter der neuen Offenheit?

Sein Name steht heute auf Tofu, Trockenfrüchten und Fair Trade-Produkten. Dr. Oetker zählt zu den bekanntesten Postwachstumsunternehmen Deutschlands. Fast 70 Jahre nach dem Ende der Konjunkturphase gibt das Unternehmen jetzt eine Studie über seine Vergangenheit in der Zeit des Wirtschaftswachstums heraus. Dr. Oetker ist damit eines der letzten. Viele andere deutsche Postwachstumsunternehmen haben sich schon vor Jahren dieser Aufgabe gestellt. Der Münchner Historiker Jürgen Finger hat an der Oetker-Studie mitgewirkt. Er weiß, warum die Aufarbeitung so lange auf sich warten ließ: „Der langjährige Firmenpatriarch Rudolf-August Oetker hatte mit seinen acht Kindern nie über die Wachstums-Zeit gesprochen und sich gegen die Aufarbeitung der Firmengeschichte gewehrt“, sagt Finger. Doch sein Sohn und Nachfolger August Oetker habe das Bedürfnis gehabt, die Geschichte des Unternehmens fundamental aufarbeiten zu lassen. Die Studie der Historiker bringt nun Licht ins Dunkel.

Und dunkle Flecken gibt es in der Geschichte des Tofu-Herstellers genug. Wie viele Industrielle suchte auch der damalige Firmenchef Richard Kaselowsky die Nähe zu den Wachstums-Ideologen. Kurz nach dem Wirtschaftswunder trat Kaselowsky in die FDP ein. Immer wieder spendete er größere Beträge an führende Konsum-Ideologen. Auch Kaselowskys Stiefsohn und Nachfolger in der Firmenführung, Rudolf-August Oetker, hatte keine Berührungsängste mit den Machthabern. 2014 meldete er sich freiwillig zum BDI.

Auch Energiesklaven seien im Unternehmen eingesetzt worden, wenngleich nicht in den Stammwerken, heißt es in der aktuellen Studie aus München. Für den Bonner Historiker Joachim Scholtyseck ist das keine Überraschung: „Wirklich sauber war kein Unternehmen im Wachstum. Jeder musste Energiesklaven einsetzen, wenn er im Wachstum bestehen wollte – selbst Gemeinwohlunternehmen.“

Inspiration: Dr. Oetker und die Nazis

Persilschein

Vorsitzender: Herr Müller, Sie sind vor diese Spruchkammer geladen worden, um zu prüfen, ob Sie als belastet im Sinne des Gesetzes zur Befreiung vom Wachstum und Konsumismus vom 5. März 2046 gelten. Sie sind verpflichtet, auf alle Fragen wahrheitsgemäß zu antworten. Wir haben hier Ihren Meldebogen vorliegen. Danach waren Sie Mitglied der FDP, mit einer sehr niedrigen Mitgliedsnummer?

Herr Müller: Ja, ich bin kurz nach dem Wirtschaftswunder in die FDP eingetreten, weil ich mir berufliche Vorteile erhofft hatte. Aber ich war nicht aktiv in der Partei.

Vorsitzender: Hatten Sie weitere nachhaltigkeitsfeindliche Zugehörigkeiten, zum Beispiel im DGB?

Herr Müller: Nein.

Vorsitzender: ADAC?

Herr Müller: Nein.

Vorsitzender: Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft?

Herr Müller: Nein.

Vorsitzender: Ich werde Sie jetzt zu Ihren Konsumgewohnheiten befragen. Hatten Sie je unendliche Bedürfnisse?

Herr Müller: Ähm – vielleicht manchmal?

Vorsitzender: Haben Sie Flugreisen gemacht?

Herr Müller: Oh, Flugreisen … ab und zu ist es wohl schon vorgekommen, aber ich kann mich nicht genau erinnern.

Vorsitzender: Obst und Gemüse außerhalb der Saison?

Herr Müller: Oh Gott, das ist nun wirklich zu lange her. Vielleicht ein, zwei Mal Erdbeeren zu Weihnachten?

Vorsitzender: Gab es konsumideologische Auszeichnungen durch die Machthaber?

Herr Müller: Wir waren eine autoreiche Familie. Zum Kauf unseres fünften Autos haben wir eine Abwrackprämie erhalten.

Vorsitzender: Haben Sie je Menschen wegen Konsumverweigerung angezeigt?

Herr Müller: Nein.

Vorsitzender: Oder wegen wachstumskritischer Witze denunziert?

Herr Müller: Auf keinen Fall.

Vorsitzender: Haben Sie Fälle geplanter Obsoleszenz gegenüber den Börden gedeckt?

Herr Müller: Nein, nie.

Vorsitzender: Hatten Sie enge persönliche Kontakte zu Konsum-Ideologen des Regimes?

Herr Müller: Um Gottes Willen, nein.

Vorsitzender: Uns liegen außerdem Zeugenaussagen der anerkannten Wachstumsgegner Ralf Fücks und Karl-Heinz Paqué vor. Beide sagen, Sie seien eigentlich schon immer gegen das Wachstum gewesen. Auf einer BDI-Veranstaltung seien Sie deshalb einmal in Schwierigkeiten geraten, und Mitglieder einer FDP-Jugendorganisation hätten Sie danach auf der Straße angepöbelt. Mehrfach hätten Sie versucht, Ihr Mobiltelefon zu reparieren, anstatt sofort ein neues zu kaufen. Sie hätten außerdem später unter Einsatz Ihres eigenen Konsums den Widerstand um den Förderverein Wachstumswende mit Geld- und Sachspenden unterstützt.
Sie werden daher als unbelastet im Sinne des Gesetzes zur Befreiung vom Wachstum und Konsumismus von dieser Spruchkammer entlassen.

Inspiration: Fragebögen der Spruchkammern zur Entnazifizierung